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Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften

Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften

Titel: Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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möglichst schlechter Kastalier zu sein und den Orden möglichst zu schädigen, seid Ihr gewiß unschuldig. Und Ihr wißt ja auch, daß es mir gar nicht gelingen wird und kann, Euren Frieden ernstlich zu stören. Aber ich will weitererzählen. – Daß ich schon im Beginn meines Magistrats jenen Entschluß fassen konnte und daß ich diesen Entschluß nicht vergaß, sondern jetzt daran bin, ihn zu verwirklichen, das hängt mit einer Art von seelischem Erlebnis zusammen, das mir von Zeit zu Zeit begegnet und das ich Erwachen nenne. Aber davon wißt Ihr schon, ich habe Euch damals einmal davon gesprochen, als Ihr mein Mentor und Guru wart, und zwar klagte ich Euch damals, daß seit dem Antritt des Amtes jenes Erlebnis mich gemieden habe und mir immer mehr in die Ferne entschwinde.«
    »Ich erinnere mich«, bestätigte der Vorstand, »ich war damals etwas betroffen über Eure Fähigkeit zu
dieser Art von Erlebnis, sie ist bei uns sonst wenig zu finden, und draußen in der Welt tritt sie in so sehr verschiedenen Formen auf: etwa beim Genie, namentlich bei Staatsmännern und Heerführern, dann aber auch bei schwachen, halb pathologischen, im ganzen eher unterbegabten Menschen wie Hellsehern, Telepathen, Medien. Mit diesen beiden Menschenarten, den Kriegshelden wie den Hellsehern und Rutengängern, schient Ihr mir so gar nichts zu tun zu haben. Vielmehr schient Ihr mir damals und bis gestern ein guter Ordensmann zu sein: besonnen, klar, gehorsam. Das Heimgesuchtwerden und Beherrschtwerden von geheimnisvollen Stimmen, göttlichen oder dämonischen oder auch Stimmen des eigenen Innern, schien mir ganz und gar nicht zu Euch zu passen. Darum deutete ich mir die Zustände von ›Erwachen‹, wie Ihr sie mir beschriebet, einfach als ein gelegentliches Bewußtwerden des persönlichen Wachstums. Daraus ergab sich auch als natürlich, daß diese seelischen Erlebnisse damals längere Zeit ausblieben: Ihr wart ja eben erst in ein Amt getreten und hattet eine Aufgabe übernommen, die Euch noch wie ein zu weiter Mantel umhing, in die Ihr erst hineinwachsen mußtet. Aber sagt: habt Ihr jemals geglaubt, diese Erweckungen seien so etwas wie Offenbarungen höherer Mächte, Mitteilungen oder Anrufe aus Bezirken einer objektiven, ewigen oder göttlichen Wahrheit?«
    »Damit«, sagte Knecht, »sind wir bei meiner augenblicklichen Aufgabe und Schwierigkeit, nämlich in Worten auszudrücken, was sich doch den Worten stets entzieht; rational machen, was offenbar außerrational ist. Nein, an Manifestationen eines Gottes oder Dämons oder einer absoluten Wahrheit habe ich bei jenen Erweckungen nie gedacht. Was diesen Erlebnissen ihre Wucht und Überzeugungskraft gibt, ist nicht ihr Gehalt an Wahrheit, ihre hohe Herkunft, ihre Göttlichkeit oder dergleichen, sondern ihre Wirklichkeit. Sie sind ungeheuer wirklich, so wie etwa ein heftiger körperlicher Schmerz oder ein überraschendes Naturereignis, Sturm oder Erdbeben, uns ganz anders mit Wirklichkeit, Gegenwärtigkeit, Unentrinnbarkeit geladen zu sein scheint als die gewöhnlichen Zeiten und Zustände. Der Windstoß, der einem ausbrechenden Gewitter vorangeht, der uns eilig nach Hause treibt und uns noch die Haustür aus der Hand zu reißen versucht – oder ein starkes Zahnweh, das alle Spannungen, Leiden und Konflikte der Welt in unsern Kiefer zu konzentrieren scheint –, das sind Dinge, an deren Realität oder Bedeutung wir meinetwegen später einmal zu rütteln anfangen mögen, falls wir zu solchen Späßen neigen, aber in der Stunde des Erlebens dulden sie keinerlei Zweifel und sind bis zum Bersten voll Realität. Eine ähnliche Art von gesteigerter Wirklichkeit nun hat mein ›Erwachen‹ für mich, daher hat es ja seinen Na
men; es ist mir in solchen Stunden wirklich, als habe ich lange Zeit im Schlaf oder Halbschlaf gelegen, jetzt aber sei ich wach und hell und empfänglich wie sonst niemals. Die Augenblicke großer Schmerzen oder Erschütterungen, auch in der Weltgeschichte, haben ihre überzeugende Notwendigkeit, sie entflammen ein Gefühl von beklemmender Aktualität und Spannung. Es mag sodann, als Folge der Erschütterung, das Schöne und Lichte geschehen oder das Tolle und Finstere; in jedem Fall wird das, was geschieht, den Anschein der Größe, der Notwendigkeit und Wichtigkeit tragen und sich von dem, was alle Tage geschieht, unterscheiden und abheben.
    Aber lasset mich versuchen«, fuhr er nach einer Atempause fort, »diese Sache noch von einer andern Seite her anzufassen.

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