Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften
die Grundhaltung des Werkes erblicken; um ihn ranken sich alle inneren Spannungen (äußere Handlungen gibt es fast keine) wie die einzelnen Stimmen um eine Melodie. Aus jener Zeit, in der Knecht die Geistigkeit Kastaliens fragwürdig zu werden beginnt, finden wir seine Gedichte, die uns seine ganze Unsicherheit und Verzweiflung zeigen.
Mit 24 Jahren ist Knechts Schulzeit abgeschlossen, nun beginnen die Jahre des Studierens. Die Studenten konnten sich ihre Fächer frei wählen. Von der Erziehungsbehörde wurde nur jährlich einmal die Abfassung eines Lebenslaufes, einer fiktiven, in eine beliebige Zeit zurückverlegten Selbstbiographie verlangt. Es war dies eine »Übung, sich das eigene Ich in veränderter Lage und Umgebung vorzustellen«. Die drei erhaltenen Lebensläufe Josef Knechts führen
in die vorgeschichtliche Zeit einer magischen Kultur (»Der Regenmacher«), in die frühchristliche Welt der Eremiten und Büßer (»Der Beichtvater«) und in die Hesse besonders vertraute Welt des alten Indien, mit seinen reich-quellenden Daseinsströmen und seiner tiefen Erkenntnis vom Scheincharakter alles Seienden, aller Freude und alles Leids (»Indischer Lebenslauf«). Die Lebensbeschreibungen sind wohl das Schönste an diesem Werk, eine Bewertung, die bestimmt nicht leichtfällt. Die reife Kunst der Darstellung, der zarte Glanz, der über den Gleichnissen und Bildern liegt, und die meditative Kraft östlicher Weisheit, die die Erzählungen ausströmen, verleihen ihnen wie auch dem ganzen Werke jenen einzigartigen Zauber, dessen nur ein Meister fähig ist. So verschieden die äußeren Geschehnisse dieser Lebensbeschreibungen sind, eines einigt sie: »Jenes Streben nach dem letzten Sinn alles Lebens, nach der Mitte alles Seins und nach der Vollendung des wahren Menschen.« Und damit ist zugleich der Sinn des ganzen Werkes ausgesprochen.
Doch wenden wir uns wieder Josef Knecht zu. Er wird feierlich in den Orden aufgenommen und steigt in der Hierarchie von Stufe zu Stufe. Längst zählt er zu der Elite der Glasperlenspieler, als ihn ein ehrenvoller Auftrag in das Benediktinerkloster Mariafels abberuft. Auch in Mariafels sind die äußeren Geschehnisse weniger wichtig. Wesentlich wird für
Knecht die Begegnung mit Pater Jakobus, dem Historiker der Benediktiner. Auch dieser zeigt Knecht, der eben die kastalische Stufenleiter aufzusteigen beginnt, die ganze Fragwürdigkeit Kastaliens in seiner »dünnen sublimierten Atmosphäre« und seinem »gelehrt-artistischen Dasein«. Er stellt dem geschichtslosen reinen Sein der Kastalier die Geschichte und die Gegebenheiten der wirklichen Welt gegenüber. »Geschichte treiben heißt: sich dem Chaos überlassen und dennoch den Glauben an die Ordnung und an den Sinn bewahren.« Knecht hört und erkennt. Seine Augen sind schärfer geworden für die Schwächen Kastaliens. Wieder, wie bei seinem Waldzeller Wettstreit mit seinem Freunde Designori wächst in ihm der Zweifel an der Gültigkeit seiner Welt. Abermals verspürt Knecht diese Polarität als dauernden Rhythmus seines Lebens, und der Leser selbst wird immer tiefer in seine innere Auseinandersetzung einbezogen.
Während seines Aufenthalts in Mariafels stirbt mitten in dem feierlichen Jahresspiel der Glasperlenspielmeister Thomas von der Trave, und Knecht wird als sein Nachfolger zum Magister Ludi gewählt.
Bis zur obersten Stufe hat Knecht die Hierarchie nunmehr durchschritten. Als Glasperlenspielmeister vereinigt er in sich die höchste geistige Macht. Vorbildlich wirkt er in seinem Amt als Lehrer und Erzieher. Und doch vermehren sich in ihm die Zweifel. De
signori, Pater Jakobus und die Worte des Altmusikmeisters hatten ihm den polaren Charakter des Lebens offenbart; die »Geschichte kann nicht ohne den Stoff und ohne die Dynamik der Sündenwelt, des Egoismus und des Trieblebens entstehen und auch so sublime Gebilde wie das des Ordens werden aus dieser trüben Flut geboren und irgendeinmal von ihr wieder verschlungen«. Noch einmal durchleben wir mit Knecht alle Stationen seines Lebens: seine Berufung, seine Einführung in die Meditation durch den Altmusikmeister, seine Gespräche mit Designori und Pater Jakobus, die seinen Durst nach Wirklichkeit angeregt haben. Nun steht er als Magister Ludi auf dem Gipfel seiner Macht. Und doch sieht er sehr bald seinen richtigen Weg vor sich. Er erinnert sich an sein Jugendgedicht »Stufen«, in dem er in prophetischer Schau sein Leben vorweggenommen hatte:
Stufen
Wie jede Blüte welkt
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