Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften
Logiker oder Grammatiker und dabei voll Phantasie und Musik sein. Man kann Musikant oder Glasperlenspieler und dabei ganz Hingabe an Gesetz und Ordnung sein. Der Mensch, den wir meinen und wollen, der zu werden unser Ziel ist, würde jeden Tag seine Wissenschaft oder Kunst mit jeder andern tauschen können, er würde im Glasperlenspiel die kristallenste Logik aufstrahlen lassen und in der Grammatik die schöpferischste Phantasie. So sollten wir sein, man sollte uns zu jeder Stunde auf einen andern Posten stellen können, ohne daß wir uns dagegen sträuben und uns verwirren lassen.«
»Ich glaube zu verstehen«, sagte Knecht. »Aber sind jene, die so starke Vorlieben und Aversionen haben,
nicht eben einfach die leidenschaftlicheren Naturen, andre aber die ruhigeren und sanfteren?«
»Es scheint zu stimmen und stimmt doch nicht«, lachte der Meister. »Um für alles tüchtig zu sein und allem gerecht zu werden, braucht man gewiß nicht ein Minus an Seelenkraft und Schwung und Wärme, sondern ein Plus. Was du Leidenschaft nennst, ist nicht Seelenkraft, sondern Reibung zwischen Seele und Außenwelt. Es ist dort, wo die Leidenschaftlichkeit herrscht, nicht ein Plus an Kraft des Begehrens und Strebens vorhanden, sondern sie ist auf ein vereinzeltes und falsches Ziel gerichtet, daher die Spannung und Schwüle in der Atmosphäre. Wer die höchste Kraft des Begehrens ins Zentrum richtet, gegen das wahre Sein hin, gegen das Vollkommene, der scheint ruhiger als der Leidenschaftliche, weil man die Flamme seiner Glut nicht immer sieht, weil er zum Beispiel beim Disputieren nicht schreit und nicht mit den Armen fuchtelt. Aber ich sage dir: er muß glühen und brennen!«
»Ach, wenn man doch wissend werden könnte!« rief Knecht. »Wenn es doch eine Lehre gäbe, etwas, woran man glauben kann! Alles widerspricht einander, alles läuft aneinander vorbei, nirgends ist Gewißheit. Alles läßt sich so deuten und läßt sich auch wieder umgekehrt deuten. Man kann die ganze Weltgeschichte als Entwicklung und Fortschritt auslegen und kann ebensowohl nichts als Verfall und Unsinn
in ihr sehen. Gibt es denn keine Wahrheit? Gibt es keine echte und gültige Lehre?«
Der Meister hatte ihn noch nie so heftig reden hören. Er ging eine Strecke weiter, dann sagte er: »Es gibt die Wahrheit, mein Lieber! Aber die ›Lehre‹, die du begehrst, die absolute, vollkommen und allein weise machende, die gibt es nicht. Du sollst dich auch gar nicht nach einer vollkommenen Lehre sehnen, Freund, sondern nach Vervollkommnung deiner selbst. Die Gottheit ist in dir, nicht in den Begriffen und Büchern. Die Wahrheit wird gelebt, nicht doziert. Mache dich auf Kämpfe gefaßt, Josef Knecht, ich sehe wohl, sie haben schon begonnen.«
In diesen Tagen sah Josef den geliebten Magister zum erstenmal in seinem Alltag und seiner Arbeit und bewunderte ihn sehr, obwohl er nur einen kleinen Teil seiner täglichen Leistung sehen konnte. Am meisten aber gewann ihn der Meister dadurch, daß er sich seiner so annahm, daß er ihn zu sich eingeladen hatte, daß inmitten seiner Arbeit der überbürdete und oft so müde aussehende Mann noch Stunden für ihn aussparte, und nicht nur die Stunden! Wenn ihm diese Einführung in die Meditation so tiefen und nachhaltigen Eindruck machte, so tat sie es, wie er später beurteilen lernte, nicht durch eine besonders feine oder eigenartige Technik, sondern nur durch die Person, durch das Beispiel des Meisters. Seine späteren Lehrer, bei welchen er im folgen
den Jahr in der Meditation unterrichtet wurde, gaben mehr Anweisungen, genauere Lehren, kontrollierten schärfer, stellten mehr Fragen, wußten mehr zu korrigieren. Der Musikmeister, seiner Macht über diesen Jüngling sicher, sprach und lehrte beinahe gar nichts, er gab eigentlich nur die Themen an und ging mit seinem Beispiel voran. Knecht beobachtete, wie sein Meister oft so alt und mitgenommen aussah, wie er dann, mit halbgeschlossenen Augen, in sich versank, danach wieder so still, so kräftig, heiter und freundlich zu blicken vermochte – nichts hätte ihn inniger vom Weg zu den Quellen, vom Weg aus der Unruhe in die Ruhe überzeugen können. Was der Meister etwa darüber in Worten zu sagen hatte, davon erfuhr Knecht beiläufig dieses und jenes auf einem kurzen Spaziergang oder bei einer Mahlzeit.
Wir wissen, daß Knecht vom Magister damals auch einige erste Andeutungen und Wegleitungen für das Glasperlenspiel empfing, doch sind keine Worte überliefert. Eindruck machte
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