Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften
zweithöchsten Rang in der Behörde), war mit Knecht gleichaltrig; wir verdanken ihm unter andrem eine Stilgeschichte der Lautenmusik im sechzehnten Jahrhundert. In der Schule nannte man ihn den »Reisesser« und schätzte ihn als angenehmen Spielkameraden; seine Freundschaft mit Josef begann mit Gesprächen über Musik und führte zu mehrjährigen gemeinsamen Studien und Übungen, über welche wir zum Teil durch Knechts seltene, aber inhaltsreiche Briefe an den Musikmeister unterrichtet sind. Knecht nennt Ferromonte im ersten dieser Briefe einen »Spezialisten und Kenner in der Musik der reichen Ornamentik, der Verzierungen, Triller etc.«, er spielte Couperin, Purcell und andre Meister der Zeit um 1700 mit ihm. In einem dieser Briefe spricht Knecht eingehend über diese Übungen und diese Musik, »wo in manchen Stücken fast über jeder Note eine Verzierung steht«. »Wenn man so ein paar Stunden lang«, fährt er fort, »nichts als Doppelschläge, Pralltriller und Mordente geschlagen hat, so sind die Finger wie mit Elektrizität geladen.«
In der Musik machte er in der Tat große Fortschrit
te, im zweiten oder dritten Waldzeller Jahr las und spielte er die Notenschriften, Schlüssel, Abkürzungen, Baßbezifferungen aller Jahrhunderte und Stile leidlich geläufig und machte sich im Reich der abendländischen Musik, soweit sie uns erhalten ist, auf jene besondere Art heimisch, welche vom Handwerk ausgeht und eine sorgfältige Beachtung und Pflege des Sinnlichen und Technischen nicht verschmäht, um in den Geist einzudringen. Gerade sein Eifer im Erfassen des Sinnlichen, sein Bemühen, aus dem Sinnlichen, Klanglichen, aus den Sensationen des Ohres in den verschiedenen Musikstilen ihren Geist abzulesen, hielt ihn auffallend lang davon ab, sich mit der Vorschule zum Glasperlenspiel abzugeben. Er hat später einmal in seinen Vorlesungen das Wort gesagt: »Wer die Musik nur in den Extrakten kennt, welche das Glasperlenspiel aus ihr destilliert hat, mag ein guter Glasperlenspieler sein, ist aber noch lange kein Musiker, und vermutlich ist er auch kein Historiker. Die Musik besteht nicht nur aus jenen rein geistigen Schwingungen und Figurationen, die wir aus ihr abstrahiert haben, sie bestand durch alle Jahrhunderte in erster Linie aus der Freude am Sinnlichen, am Ausströmen des Atems, am Schlagen des Taktes, an den Färbungen, Reibungen und Reizen, welche beim Mischen von Stimmen, beim Zusammenspiel von Instrumenten entstehen. Gewiß ist der Geist die Hauptsache, und gewiß ist die Erfindung neuer In
strumente und die Änderung alter, ist die Einführung neuer Tonarten und neuer konstruktiver und harmonischer Regeln oder Verbote immer nur eine Gebärde und Äußerlichkeit, so wie die Trachten und Moden der Völker eine Äußerlichkeit sind; aber man muß diese äußerlichen und sinnlichen Kennzeichen sinnlich und intensiv erfaßt und geschmeckt haben, um die Epochen und Stile aus ihnen heraus zu verstehen. Man macht Musik mit den Händen und Fingern, mit dem Munde, mit der Lunge, nicht mit dem Gehirn allein, und wer zwar Noten lesen, aber kein Instrument vollkommen spielen kann, der soll über Musik nicht mitreden. Und so ist auch die Geschichte der Musik keineswegs allein von einer abstrakten Stilgeschichte aus zu verstehen, und es würden zum Beispiel die Verfallszeiten der Musik ganz unverständlich bleiben, wenn wir in ihnen nicht jedesmal das Überwiegen des Sinnlichen und Quantitativen über das Geistige erkennen würden.«
Es hatte eine Weile den Anschein, als habe Knecht sich entschlossen, nichts als Musiker zu werden; alle im Belieben des Schülers stehenden Lehrfächer, darunter die erste Einführung ins Glasperlenspiel, versäumte er zugunsten der Musik so sehr, daß gegen Ende des ersten Semesters der Schulvorstand ihn darüber zur Rede stellte. Der Schüler Knecht ließ sich nicht einschüchtern, er stellte sich hartnäckig auf den Standpunkt der Schülerrechte. Er soll zum Vor
stand gesagt haben: »Wenn ich in einem offiziellen Unterrichtsfach versage, so sind Sie im Recht, wenn Sie mich tadeln; ich habe Ihnen dazu aber keinen Anlaß gegeben. Ich dagegen bin im Recht, wenn ich von der Zeit, über die ich verfügen darf, drei Viertel oder auch vier Viertel der Musik widme. Ich berufe mich auf die Statuten.« Der Vorstand Zbinden war klug genug, nicht zu insistieren, merkte sich aber natürlich diesen Schüler und soll ihn lange Zeit mit kühler Strenge behandelt haben.
Länger als ein Jahr, vermutlich
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