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Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften

Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften

Titel: Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Scheinbar lernen es ja alle, aber man darf nicht immer nachprüfen. Von dir wünsche ich, daß du es richtig und gut lernest, ebenso gut wie die Musik; alles andre kommt dann von selbst. Darum möchte ich dir die zwei oder drei ersten Lektionen selbst geben, das war der Grund meiner Einladung. Wir wollen also heut und morgen und übermorgen je eine Stunde zu meditieren versuchen, und zwar über Musik. Du bekommst jetzt einen Becher Milch, damit Durst und Hunger dich nicht stören, die Abendmahlzeit wird uns erst später gebracht.«
    Es pochte an der Tür, und ein Becher Milch wurde gebracht.
    »Trinke langsam, langsam«, mahnte er, »laß dir Zeit, und sprich nicht dazu.« Ganz langsam trank Knecht seine kühle Milch, ihm gegenüber saß der verehrte Mann und hielt wieder die Augen geschlossen, sein Gesicht sah recht alt, aber freundlich aus, es war voll Friede, er lächelte in sich hinein, als sei er in seine eigenen Gedanken hinabgestiegen wie ein Ermüdeter in ein Fußbad. Es strömte Ruhe von ihm aus. Knecht spürte es und wurde selbst beruhigt.
    Jetzt drehte sich der Magister auf seinem Stuhle um und legte die Hände auf das Klavier. Er spielte ein Thema und trieb es variierend vorwärts, es schien ein Stück von einem italienischen Meister zu sein. Er
wies seinen Gast an, sich den Gang dieser Musik wie einen Tanz, wie eine ununterbrochene Reihe von Gleichgewichtsübungen vorzustellen, wie eine Folge von kleineren oder größeren Schritten von der Mitte einer Symmetrieachse aus, und auf nichts andres zu achten als auf die Figur, welche diese Schritte bildeten. Er spielte die Takte nochmals, sann ihnen schweigend nach, spielte sie noch einmal, und blieb, die Hände auf den Knien, ganz still sitzen, die Augen halb geschlossen, ohne jede Regung, in sich innen die Musik wiederholend und betrachtend. Auch der Schüler horchte ihr in seinem Innern nach, sah Bruchstücke von Notenlinien vor sich, sah etwas sich bewegen, etwas schreiten, tanzen und schweben, und suchte die Bewegung zu erkennen und zu lesen wie die Kurven der Linie eines Vogelfluges. Sie verwirrten und verloren sich wieder, er mußte von vorn beginnen, einen Augenblick verließ ihn die Konzentration, er war im Leeren, blickte verlegen um sich und sah das stille versunkene Angesicht des Meisters blaß in der Dämmerung schweben, fand sich nun wieder in jenen geistigen Raum zurück, dem er entglitten war, hörte die Musik wieder darin tönen, sah sie darin schreiten, sah sie die Linie ihrer Bewegung hinschreiben, sah und sann den tanzenden Füßen der Unsichtbaren nach . . .
    Es schien ihm eine lange Zeit vergangen zu sein, als er dem Raum wieder entglitt, als er den Stuhl unter
sich wieder fühlte, den mattenbedeckten Steinboden, das schwach gewordene Dämmerlicht hinter den Fenstern. Er spürte, daß jemand ihn ansehe, blickte auf und sah in den Blick des Musikmeisters, der ihn aufmerksam betrachtete. Der Meister nickte ihm kaum merklich zu, spielte mit einem Finger pianissimo die letzte Variation jener italienischen Musik und erhob sich.
    »Bleibe hier sitzen«, sagte er, »ich werde wiederkommen. Suche die Musik in dir noch einmal auf, achte auf die Figur! Aber zwinge dich nicht, es ist bloß ein Spiel. Wenn du drüber einschläfst, so schadet es auch nichts.«
    Er ging, es wartete noch eine Arbeit auf ihn, die der überfüllte Tag ihm übriggelassen hatte, keine leichte und angenehme Arbeit, keine, die er sich wünschte. Es war einer unter den Schülern des Dirigentenkurses, ein begabter, aber eitler und hochfahrender Mensch, mit dem er noch sprechen, dem er Unarten legen, Unrecht beweisen, dem er Sorge wie Überlegenheit, Liebe wie Autorität zeigen mußte. Er seufzte. Daß es keine endgültige Ordnung, kein Aufräumen mit erkannten Irrtümern gab! Daß man immer und immer wieder dieselben Fehler bekämpfen, dieselben Unkräuter ausraufen mußte! Das Talent ohne Charakter, das Virtuosentum ohne Hierarchie, das einst im Feuilletonzeitalter das Musikleben beherrscht hatte, das in der musikalischen Renaissance ausge
rottet und abgetan worden war – da grünte es schon wieder und trieb Knospen.
    Als er von seinem Gange wiederkam, um mit Josef das Abendbrot einzunehmen, fand er ihn still, aber vergnügt, gar nicht mehr müde. »Es war sehr schön«, sagte der Knabe träumerisch. »Die Musik ist mir darüber ganz entschwunden, sie hat sich verwandelt.«
    »Laß sie in dir nachschwingen«, sagte der Meister und führte ihn in ein kleines Gemach, wo

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