Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften
ein Tisch mit Brot und Obst bereit stand. Sie aßen, und der Meister lud ihn ein, morgen eine Weile dem Dirigierkurs beizuwohnen. Ehe er sich zurückzog und den Gast in seine Zelle brachte, sagte er zu ihm: »Du hast beim Meditieren etwas gesehen, die Musik ist dir als Figur erschienen. Versuche, wenn du dazu Lust hast, sie nachzuschreiben.«
In der Gastzelle fand Knecht einen Bogen Papier auf dem Tisch liegen und Stifte, und ehe er zur Ruhe ging, versuchte er die Figur zu zeichnen, in welche sich ihm jene Musik verwandelt hatte. Er zog eine Linie, und von der Linie schräg wegstrebend in rhythmischen Zwischenräumen kurze Seitenlinien; es erinnerte etwa an die Ordnung der Blätter an einem Baumzweig. Es befriedigte ihn nicht, was dabei entstand, aber er fühlte Lust, es noch einmal und nochmals zu versuchen, und zuletzt bog er im Spielen die Linie zu einem Kreis, von welchem die Seitenlinien ausstrahlten, ähnlich wie vom Kreis eines Kranzes
die Blumen. Dann ging er zu Bett und schlief schnell ein. Im Traum kam er wieder auf jene Hügelkuppe über den Wäldern, wo er gestern mit seinem Kameraden gerastet hatte, und sah unter sich das liebe Eschholz liegen, und indem er hinabschaute, zog das Rechteck der Schulgebäude sich zu einem Oval und dann zum Kreis auseinander, einem Kranz, und der Kranz begann sich langsam zu drehen, drehte sich mit zunehmender Geschwindigkeit, drehte sich zuletzt rasend schnell und barst und flog in funkelnden Sternen auseinander.
Er wußte beim Erwachen nichts mehr davon, aber als ihn später bei einem Morgengang der Meister fragte, ob er einen Traum gehabt habe, war es ihm, als müsse er etwas Schlimmes oder Aufregendes im Traum erlebt haben, er sann nach, fand den Traum wieder, erzählte ihn und war verwundert über seine Harmlosigkeit. Aufmerksam hörte der Meister zu.
»Soll man denn auf Träume achten?« fragte Josef. »Kann man sie deuten?«
Der Meister sah ihm in die Augen und sagte kurz: »Man soll auf alles achten, denn man kann alles deuten.« Nach einigen Schritten aber fragte er väterlich: »In welche Schule möchtest du denn am liebsten kommen?« Jetzt errötete Josef. Schnell und leise sagte er: »Ich glaube, nach Waldzell.« Der Meister nickte. »Ich dachte es mir. Du kennst doch den alten Spruch: Gignit autem artificiosam . . .«
Noch rot im Gesicht, ergänzte Knecht den jedem Schüler wohlbekannten Spruch: Gignit autem artificiosam lusorum gentem Cella Silvestris. Zu deutsch: Waldzell aber bringt das kunstreiche Völkchen der Glasperlenspieler hervor.
Herzlich blickte ihn der Alte an. »Wahrscheinlich ist das dein Weg, Josef. Du weißt, daß nicht alle mit dem Glasperlenspiel einverstanden sind. Sie sagen, es sei ein Ersatz für die Künste, und die Spieler seien Belletristen, sie seien nicht mehr als eigentlich Geistige zu betrachten, sondern seien eben frei phantasierende und dilettierende Künstler. Du wirst ja sehen, was daran wahr ist. Vielleicht hast du selber Vorstellungen vom Glasperlenspiel, die ihm mehr zutrauen, als es dir halten wird, vielleicht auch umgekehrt. Daß das Spiel Gefahren hat, ist gewiß. Eben darum lieben wir es, auf gefahrlose Wege schickt man nur die Schwachen. Du sollst aber nie vergessen, was ich dir so oft gesagt habe: unsre Bestimmung ist, die Gegensätze richtig zu erkennen, erstens nämlich als Gegensätze, dann aber als die Pole einer Einheit. So ist es auch mit dem Glasperlenspiel. Die Künstlernaturen sind in dies Spiel verliebt, weil man darin phantasieren kann; die strengen Fachwissenschaftler verachten es – und auch manche Musiker tun es –, weil ihm jener Grad der Strenge in der Disziplin fehle, den die Einzelwissenschaften erreichen können. Gut, du wirst diese Gegensätze kennenlernen und
wirst mit der Zeit entdecken, daß es nicht Gegensätze der Objekte sind, sondern der Subjekte, daß zum Beispiel ein phantasierender Künstler die reine Mathematik oder Logik nicht deswegen meidet, weil er etwas von ihr erkannt und auszusagen hätte, sondern weil er instinktiv anderswohin neigt. Du kannst an solchen instinktiven und heftigen Neigungen und Abneigungen mit Sicherheit die kleineren Seelen erkennen. In Wirklichkeit, das heißt in den großen Seelen und überlegenen Geistern, gibt es diese Leidenschaften nicht. Jeder von uns ist nur ein Mensch, nur ein Versuch, ein Unterwegs. Er soll aber dorthin unterwegs sein, wo das Vollkommene ist, er soll ins Zentrum streben, nicht an die Peripherie. Merke dir: man kann strenger
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