Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften
gewirkt hatte. Und von jenem Abend an, der mit der Sonate von Purcell begonnen hatte, war in der Tat das Etwas und die Verbundenheit da. Jakobus genoß den Austausch mit einem so geschulten und noch so bildsamen jungen Geist, dies Vergnügen ward ihm nicht allzuoft, und für Knecht wurde der Umgang mit dem Historiker und die Schulung durch ihn, welche nun begann, eine neue Stufe auf jenem Weg des Erwachens, als den er sein Leben betrachtete. Um es in wenigen Worten zu sagen: er lernte durch den Pater die Historie, lernte die Gesetzlich
keiten und Widersprüchlichkeiten des Geschichtsstudiums und der Geschichtsschreibung kennen und lernte in den folgenden Jahren darüber hinaus die Gegenwart und das eigene Leben als geschichtliche Wirklichkeit sehen.
Ihre Gespräche wuchsen oft zu richtigen Disputationen, Angriffen und Rechtfertigungen aus, im Anfang war es freilich mehr Pater Jakobus, der sich angriffslustig zeigte. Je mehr er den Geist seines jungen Freundes kennenlernte, desto mehr tat es ihm leid, diesen so Hohes versprechenden jungen Menschen ohne die Zucht einer religiösen Erziehung und in der Scheinzucht einer intellektuell-ästhetischen Geistigkeit aufgewachsen zu wissen. Was er etwa an Knechts Denkart zu tadeln fand, schrieb er auf Rechnung dieses »modernen« kastalischen Geistes, seiner Wirklichkeitsferne, seiner Neigung zu spielerischer Abstraktion. Und wo Knecht ihn durch unverdorbene, seiner eigenen Denkart nahe verwandte Auffassungen und Äußerungen überraschte, triumphierte er darüber, daß seines jungen Freundes gute Natur der kastalischen Erziehung so kräftig Widerstand geleistet habe. Josef nahm die Kritik an Kastalien sehr ruhig auf, und wo der alte Herr in seiner Leidenschaftlichkeit ihm zu weit zu gehen schien, wies er seine Angriffe kühl zurück. Übrigens waren unter den herabsetzenden Äußerungen des Paters über Kastalien auch solche, denen Josef zum Teil recht geben
mußte, und in einem Punkt lernte er während seiner Mariafelser Zeit gewaltig um. Es handelte sich um das Verhältnis des kastalischen Geistes zur Weltgeschichte, um das, was der Pater »den völligen Mangel an geschichtlichem Sinn« nannte. »Ihr Mathematiker und Glasperlenspieler«, konnte er sagen, »habt euch eine Weltgeschichte zurechtdestilliert, die bloß noch aus Geistes- und Kunstgeschichte besteht, eure Geschichte ist ohne Blut und Wirklichkeit; ihr wißt genau Bescheid über den Verfall des lateinischen Satzbaues im zweiten oder dritten Jahrhundert und habt von Alexander oder von Cäsar oder von Jesus Christus keine Ahnung. Ihr behandelt die Weltgeschichte wie ein Mathematiker die Mathematik, wo es nur Gesetze und Formeln gibt, aber keine Wirklichkeit, kein Gut und Böse, keine Zeit, kein Gestern, kein Morgen, nur eine ewige, flache, mathematische Gegenwart.«
»Aber wie soll man Geschichte treiben, ohne Ordnung in sie zu bringen?« fragte Knecht.
»Gewiß soll man Ordnung in die Geschichte bringen«, wetterte Jakobus. »Jede Wissenschaft ist, unter andrem, ein Ordnen, ein Vereinfachen, ein Verdaulichmachen des Unverdaulichen für den Geist. Wir glauben in der Geschichte einige Gesetze erkannt zu haben und versuchen, auf sie beim Erkennen der geschichtlichen Wahrheit Rücksicht zu nehmen. So etwa, wie wenn ein Anatom beim Zerlegen eines Körpers sich nicht vor lauter ganz und gar überraschen
de Funde gestellt sieht, sondern durch das Vorfinden einer Organ-, Muskel-, Bänder- und Knochenwelt unter der Epidermis ein Schema bestätigt findet, das er in sich selber mitbrachte. Wenn der Anatom aber nur noch sein Schema sieht und die einmalige, individuelle Wirklichkeit seines Objekts darüber vernachlässigt, dann ist er ein Kastalier, ein Glasperlenspieler, er treibt Mathematik am ungeeignetsten Objekt. Wer Geschichte betrachtet, soll meinetwegen den rührendsten Kinderglauben an die ordnende Macht unsres Geistes und unsrer Methoden mitbringen, aber außerdem und trotzdem soll er Respekt haben vor der unbegreiflichen Wahrheit, Wirklichkeit, Einmaligkeit des Geschehens. Geschichte treiben, mein Lieber, ist kein Spaß und kein verantwortungsloses Spiel. Geschichte treiben setzt das Wissen darum voraus, daß man damit etwas Unmögliches und dennoch Notwendiges und höchst Wichtiges anstrebt. Geschichte treiben heißt: sich dem Chaos überlassen und dennoch den Glauben an die Ordnung und den Sinn bewahren. Es ist eine sehr ernste Aufgabe, junger Mann, und vielleicht eine tragische.«
Unter den Worten des Paters,
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