Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
fort. »Und du?«
    »Ich?« sagte Miette. »Ich werde zu Allerheiligen elf.«
    Der junge Arbeiter machte eine Bewegung der Überraschung.
    »Sieh da!« rief er lachend. »Und ich hatte dich für eine Frau gehalten! Du hast so kräftige Arme!«
    Nun lachte auch sie und schaute auf ihre Arme. Dann sprachen sie gar nichts mehr. Eine gute Weile lang sahen sie einander noch an und lächelten. Da Silvère keine Fragen mehr zu haben schien, ging Miette einfach fort und machte sich wieder ans Jäten, ohne auch nur den Kopf zu heben. Er blieb noch einen Augenblick oben auf der Mauer. Die Sonne ging eben unter. Eine Flut von schrägen Strahlen ergoß sich über die lehmige Erde des JasMeiffren; sie flammte auf, als züngele ein Brand über den Boden. Und inmitten dieser lodernden Flut sah Silvère die kleine Bäuerin hocken, deren bloße Arme ihr flinkes Spiel wiederaufgenommen hatten. Der blaue Baumwollrock schien fast weiß geworden; Lichtstreifen liefen über ihre golden schimmernden Arme hin. Schließlich schämte sich Silvère irgendwie, noch länger dazubleiben. Er kletterte von der Mauer hinunter.
    Abends versuchte er, immer noch mit seinem seltsamen Erlebnis beschäftigt, Tante Dide auszufragen. Vielleicht wußte sie, wer diese Miette war, die so schwarze Augen und einen so roten Mund hatte. Doch Tante Dide hatte, seit sie das Haus in der Sackgasse bewohnte, nicht einen einzigen Blick mehr über die Mauer des kleinen Hofes geworfen. Die Mauer war für sie wie ein unübersteigbarer Wall, der ihre Vergangenheit umschloß. Sie wußte nicht und wollte auch nicht wissen, was jetzt jenseits dieser Mauer vor sich ging, auf dem ehemaligen Anwesen der Fouques, wo sie ihre Liebe, ihr Herz und ihre Lust begraben hatte. Schon bei Silvères ersten Fragen sah sie ihn wie ein erschrecktes Kind an. Wollte etwa auch er die Asche jener erloschenen Tage aufrühren und sie wie ihr Sohn Antoine zum Weinen bringen?
    »Ich weiß nicht«, sagte sie hastig, »ich komme nicht mehr aus dem Haus; ich sehe niemanden …«
    Silvère erwartete den nächsten Morgen mit einer gewissen Ungeduld. Sobald er bei seinem Meister angelangt war, brachte er seine Arbeitskameraden auch schon zum Reden. Er sagte nichts von seiner Begegnung mit Miette, er erwähnte nur so nebenbei ein Mädchen, das er von weitem im JasMeiffren gesehen habe.
    »Ach, das ist die Chantegreil!« rief einer der Arbeiter.
    Und ohne daß Silvère es nötig gehabt hätte, die Kameraden auszufragen, erzählten sie ihm mit dem blinden Haß der Menge gegen die Ausgestoßenen die Geschichte von dem Wilderer Chantegreil und seiner Tochter Miette. Besonders von dem Kind sprachen sie in einer unflätigen Weise, und immer wieder kam das Schimpfwort »Sträflingstochter« über ihre Lippen, wie eine unbestreitbare Tatsache, die das arme unschuldige Geschöpf zu ewiger Schande verdammte.
    Der Stellmacher Vian, ein braver und würdiger Mann, gebot ihnen endlich Einhalt.
    »Wollt ihr wohl schweigen, ihr Schandmäuler!« sprach er und ließ die Wagendeichsel los, die er gerade untersuchte. »Schämt ihr euch nicht, so über ein Kind herzufallen? Ich habe die Kleine gesehen. Sie sieht durchaus rechtschaffen aus. Außerdem hat man mir erzählt, daß sie sich vor keiner Arbeit drückt und schon soviel schafft wie eine Dreißigjährige. Wir haben hier Nichtstuer, die ihr nicht das Wasser reichen können. Ich wünsche ihr für später einen guten Mann, der allem bösen Gerede ein Ende macht.«
    Silvère, dem es bei den groben Scherzen und Schimpfreden der Arbeiter eiskalt geworden war, fühlte, wie ihm bei den letzten Worten Vians Tränen in die Augen stiegen. Übrigens tat er den Mund nicht auf. Er griff nach seinem Hammer, den er neben sich gelegt hatte, und begann aus Leibeskräften auf eine Radnabe einzuhauen, die er mit Eisen beschlug.
    Gleich nachdem er abends aus der Werkstatt heimgekehrt war, kletterte er rasch auf die Mauer. Er fand Miette bei der gestrigen Arbeit. Er rief sie an. Mit ihrem verlegenen Lächeln und der liebreizenden Menschenscheu eines Kindes, das unter Tränen aufgewachsen ist, kam sie zu ihm.
    »Du bist die Chantegreil, nicht wahr?« fragte er sie unvermittelt.
    Sie wich zurück. Sie lächelte nicht länger; ihre schwarzen Augen wurden hart und funkelten mißtrauisch. Dieser Junge wollte sie also genauso kränken wie die andern! Ohne zu antworten, kehrte sie ihm den Rücken, als Silvère, bestürzt von der plötzlichen Verwandlung ihres Gesichts, eilig hinzufügte:
    »Ich bitte

Weitere Kostenlose Bücher