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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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einmal im Monat einen Eimer Wasser aus dem gemeinschaftlichen Brunnen, zumal er von den Wirtschaftsgebäuden weit entfernt lag. Von der anderen Seite her hörte man hingegen jeden Morgen die Rolle der Winde kreischen, wenn Silvère für Tante Dide das Wasser für den Haushalt heraufzog.
    Eines Tages zersprang die Rolle. Der junge Stellmacher zimmerte eigenhändig eine schöne und starke aus Eichenholz und brachte sie abends nach vollendetem Tagewerk an. Dazu mußte er auf die Mauer klettern. Als er fertig war, blieb er rittlings auf der Mauer sitzen, um sich auszuruhen, und betrachtete neugierig das weitläufige Gelände des JasMeiffren. Eine Bäuerin, die wenige Schritte entfernt Unkraut jätete, fesselte seine Aufmerksamkeit. Es war Juli; die Luft war schwül, obschon die Sonne bereits dicht über dem Horizont stand. Die Bäuerin hatte ihre Jacke ausgezogen. In einem weißen Mieder, ein farbiges Busentuch um die Schultern geknüpft, die Hemdärmel bis zum Ellenbogen aufgestreift, kniete sie auf dem Boden, umflossen von den Falten ihres blauen Baumwollrocks, den zwei im Rücken gekreuzte Träger festhielten. Während sie sich auf den Knien vorwärts bewegte, riß sie emsig das Unkraut aus und warf es in einen Korb. Der junge Bursche sah von ihr nur die beiden entblößten, sonnengebräunten Arme, die sich bald nach links, bald nach rechts ausstreckten, um nach einem zuvor übersehenen Kraut zu greifen. Mit Wohlgefallen folgte er dem schnellen Spiel dieser Arme und empfand eine seltsame Freude darüber, daß sie so fest und geschickt waren. Als ihn die Bäuerin nicht mehr arbeiten hörte, richtete sie sich leicht auf, senkte dann aber gleich wieder den Kopf, ehe er auch nur ihre Gesichtszüge hätte unterscheiden können. Diese scheue Bewegung hielt ihn auf der Mauer zurück. Als neugieriger Bursche fragte er sich, wer diese Frau wohl sein könnte, pfiff unwillkürlich vor sich hin und schlug den Takt dazu mit dem Meißel in seiner Hand, bis ihm dieser entglitt. Das Werkzeug fiel nach der Seite des JasMeiffren auf den Brunnenrand, sprang von dort ab und landete, einige Schritte von der Mauer entfernt, auf dem Boden. Silvère schaute ihm nach, bückte sich, zögerte indessen, hinunterzuklettern. Doch die Bäuerin mußte den jungen Burschen heimlich beobachtet haben, denn sie stand wortlos auf, hob den Meißel auf und hielt ihn Silvère hin. Nun sah dieser, daß die Bäuerin noch ein Kind war. Er war überrascht und ein wenig verschüchtert. Im Schein des Abendrots reckte sich das Mädchen zu ihm empor. Die Mauer war an dieser Stelle zwar niedrig, aber doch noch zu hoch für sie. Silvère legte sich der Länge nach auf die Mauerkante, und die kleine Bäuerin stellte sich auf die Fußspitzen. Sie sagten nichts, schauten einander nur verwirrt und lächelnd an. Der junge Bursche hätte das Kind gern noch länger in dieser Stellung gesehen. Sie wandte ihm ein reizendes Köpfchen mit großen schwarzen Augen und roten Lippen zu, das ihn erstaunte und seltsam erregte. Niemals noch hatte er ein Mädchen aus solcher Nähe gesehen; er wußte nicht, daß ein Mund und zwei Augen so erfreulich anzuschauen sein könnten. Alles erschien ihm von unbekanntem Reiz: das farbige Busentuch, das weiße Mieder, der blaue Baumwollrock, von Trägern gehalten, die sich bei jeder Bewegung der Schultern spannten. Sein Blick glitt den Arm entlang, der ihm das Werkzeug reichte. Bis zum Ellbogen war er goldbraun, wie von Sonnenbrand bekleidet, aber weiter oben, im Schatten des aufgestreiften Hemdärmels, entdeckte Silvère eine nackte, milchweiße Rundung. Er wurde verlegen, beugte sich weiter hinab und konnte endlich den Meißel fassen. Jetzt geriet auch das kleine Bauernmädchen in Verwirrung. Und so verharrten sie, lächelten einander zu, das Kind von unten, mit immer noch emporgerichtetem Gesicht, der junge Bursche, halb sitzend, halb liegend auf der Mauerkante. Sie wußten nicht recht, wie sie sich trennen sollten. Kein einziges Wort hatten sie miteinander gewechselt. Silvère vergaß sogar, sich zu bedanken.
    »Wie heißt du?« fragte er endlich.
    »Marie«, antwortete das Bauernmädchen. »Aber alle nennen mich Miette.« Sie reckte sich noch ein wenig höher auf und fragte nun ihrerseits mit ihrer klaren Stimme: »Und du?«
    »Ich? Ich heiße Silvère«, erwiderte der junge Arbeiter.
    Stillschweigen trat ein, während beide dem angenehmen Klang ihrer Namen wohlgefällig zu lauschen schienen.
    »Ich bin fünfzehn Jahre alt«, fuhr Silvère

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