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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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war das lächelnde Gesicht Miettes, ihr Oberkörper mit dem farbigen Brusttuch, dem weißen Mieder, den blauen Trägern. Silvère entdeckte jetzt auch sein eigenes Bild in dem anderen Spiegel. Nun nickten die beiden, die wußten, daß sie einander sahen, sich zu. Im ersten Augenblick dachten sie nicht einmal daran, zu sprechen. Dann begrüßten sie sich.
    »Guten Morgen, Silvère!«
    »Guten Morgen, Miette!«
    Der fremde Klang ihrer Stimmen überraschte sie. Die Stimmen klangen in dem feuchten Loch dumpf und merkwürdig weich. Es schien, als kämen sie von sehr weit her mit jenem leichten Singen, das Stimmen eigen ist, die man abends auf freiem Felde hört. Sie begriffen, daß sie nur ganz leise zu reden brauchten, um einander zu verstehen. Der Brunnen gab den leisesten Hauch zurück. Auf den Rand gestützt, hinuntergebeugt und einander betrachtend, plauderten sie. Miette erzählte, wieviel Kummer sie seit acht Tagen gehabt hatte. Sie arbeite jetzt am anderen Ende des Jas und könne sich nur am frühen Morgen fortstehlen. Während sie das berichtete, verzog sie unwillig das Gesicht, was Silvère genau wahrnehmen konnte und mit einem ärgerlichen Kopfschütteln beantwortete. So schütteten sie sich gegenseitig ihr Herz aus, als ständen sie einander gegenüber, mit genau den Gebärden und Mienen, die die gesprochenen Worte verlangten. Jetzt, da sie sich in der verschwiegenen Tiefe sahen, störte die trennende Mauer sie wenig.
    »Ich wußte, daß du alle Tage zur gleichen Zeit Wasser heraufziehst«, fuhr Miette mit verschmitzter Miene fort. »Vom Hause aus höre ich das Kreischen der Rolle. Nun habe ich einen Vorwand gefunden; ich behaupte, mit dem Wasser aus diesem Brunnen koche sich das Gemüse besser weich. Wenn ich jeden Morgen zur gleichen Zeit wie du Wasser hole, können wir uns guten Morgen sagen, ohne daß jemand etwas davon merkt.« Dabei lachte sie wie ein Kind, das stolz auf seine List ist, und meinte schließlich: »Daß wir uns im Wasser sehen könnten, hatte ich aber nicht gedacht.«
    Gerade das war in der Tat eine unverhoffte Freude, die sie entzückte. Sie sprachen eigentlich nur, um die Bewegungen ihrer Lippen zu sehen, so sehr ergötzte dieses neue Spiel das Kind, das noch in ihnen steckte. Deshalb versprachen sie einander in allen Tonarten, dieses morgendliche Stelldichein niemals zu versäumen. Nachdem Miette erklärt hatte, daß sie nun gehen müsse, sagte sie zu Silvère, jetzt dürfe er Wasser schöpfen. Er wagte jedoch nicht, das Seil zu erschüttern: Miette stand noch immer über den Brunnenrand gebeugt, noch immer sah er ihr lächelndes Gesicht, und er konnte es nicht über sich bringen, dieses Lächeln auszulöschen. Aber durch eine leichte Berührung des Eimers geriet das Wasser ins Zittern, Miettes Lächeln zerging.. Von einer seltsamen Angst ergriffen, hielt er inne; er bildete sich ein, er habe Miette soeben gekränkt, und nun weine sie. Doch das Mädchen rief ihm zu: »Mach doch, mach doch!« mit einem Lachen, das der Widerhall ihm noch anhaltender und heller zurückgab. Und nun ließ sie selbst geräuschvoll einen Eimer hinab. Es gab ein wahres Gewitter im Brunnen. Alles verschwand unter dem dunklen Wasser. Da entschloß sich Silvère, seine beiden Krüge zu füllen, wobei er auf Miettes Schritte lauschte, die jenseits der Mauer davonging.
    Seit jenem Tage versäumten die beiden Kinder nicht ein einziges Mal ihr Stelldichein. Das stehende Wasser, die weißen Spiegel, worin sie ihre Ebenbilder betrachteten, gaben ihren Zusammenkünften einen unendlichen Reiz, der ihrem kindlich verspielten Sinn lange Zeit genügte. Sie hatten gar nicht das Verlangen, einander von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Es schien ihnen viel ergötzlicher, einen Brunnen als Spiegel zu benutzen und seinem Echo ihren Morgengruß anzuvertrauen. Bald kannten sie den Brunnen wie einen alten Freund. Sie beugten sich gern über seine schwere und reglose Wasserfläche, die flüssigem Silber glich. Tief unten, im geheimnisvollen Halbdunkel, huschten grüne Lichter umher, die das feuchte Loch in ein tief im Gebüsch verlorenes Versteck zu verwandeln schienen. So sahen sie sich gegenseitig wie in einem grünlichen, mit Moos gepolsterten Nest mitten in kühlem Wasser und frischem Laub. Und alles Unbekannte dieser tiefen Quelle, dieses hohlen Turms, darüber sie sich, unwiderstehlich angezogen, mit leichtem Schauer neigten, fügte der Freude, einander zuzulächeln, eine uneingestandene, köstliche Angst hinzu. Es kam ihnen

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