Das Glück der Familie Rougon - 1
dich, bleib … Ich will dir gewiß nicht weh tun … Ich habe dir so viel zu sagen!«
Sie kehrte zurück, noch voller Argwohn.
Silvère, dem das Herz voll war und der sich vorgenommen hatte, es gründlich auszuschütten, blieb stumm, weil er aus Angst, eine neue Ungeschicklichkeit zu begehen, nicht wußte, wo er anfangen sollte. Endlich sprach sich sein Herz in einem einzigen Satz aus.
»Soll ich dein Freund sein?« fragte er mit bewegter Stimme. Und als Miette, völlig überrascht, mit ihren nun wieder feuchten und lächelnden Augen zu ihm aufblickte, fuhr er lebhaft fort: »Ich weiß, daß man dir Kummer macht. Das muß aufhören. Von jetzt an werde ich dich verteidigen. Ist es dir recht?«
Das Kind strahlte. Die Freundschaft, die sich ihr hier darbot, befreite sie von all ihren bösen, stummen Haßträumen. Sie schüttelte den Kopf und antwortete:
»Nein, ich will nicht, daß du dich um meinetwillen herumprügelst. Da hättest du viel zu tun. Und dann gibt es auch Leute, gegen die du mich nicht verteidigen kannst.«
Silvère wollte versichern, daß er sie gegen die ganze Welt verteidigen werde, aber sie brachte ihn durch eine schmeichlerische Bewegung zum Schweigen und fügte hinzu:
»Mir genügt, daß du mein Freund bist.«
Dann plauderten sie ein paar Minuten miteinander, so leise wie möglich. Miette erzählte Silvère von ihrem Onkel und von ihrem Vetter. Um keinen Preis wollte sie, daß er, rittlings auf der Mauerkante sitzend, von ihnen ertappt würde. Justin würde unerbittlich sein, sobald er eine Waffe gegen sie hätte. Sie sprach von ihren Befürchtungen mit der Angst eines Schulmädchens, das eine Freundin trifft, mit der zu verkehren ihr die Mutter verboten hat. Silvère begriff von all dem nur, daß er Miette nicht nach Belieben sehen dürfe. Das machte ihn sehr traurig. Er versprach jedoch, nie wieder auf die Mauer zu klettern. Noch waren sie dabei, zu überlegen, wie sie sich wiedersehen könnten, als Miette ihn dringend bat zu gehen. Sie hatte soeben bemerkt, daß Justin quer durch den Garten auf den Brunnen zukam. Silvère stieg rasch von der Mauer hinunter. In dem kleinen Hof blieb er unten an der Mauer stehen und spitzte, ärgerlich über seine Flucht, die Ohren. Nach einigen Minuten wagte er es, von neuem hinaufzuklettern und einen Blick in den JasMeiffren zu werfen. Aber da sah er Justin, der mit Miette sprach, und zog schnell seinen Kopf zurück. Am folgenden Tag sah er seine Freundin gar nicht, nicht einmal von ferne; sie mußte wohl ihre Arbeit in diesem Teil des Jas beendet haben. So vergingen acht Tage, ohne daß die beiden Gelegenheit gefunden hätten, auch nur ein einziges Wort miteinander zu wechseln. Silvère war verzweifelt; er dachte schon daran, geradeswegs zu den Rébufats zu gehen und nach Miette zu fragen.
Der gemeinschaftliche Brunnen war groß und nicht sehr tief. Zu beiden Seiten der Mauer rundete sich die Einfassung zu einem weiten Halbkreis. Die Wasseroberfläche lag höchstens drei oder vier Meter tiefer. Dieses stehende Wasser spiegelte die beiden Brunnenlöcher, zwei Halbmonde, die der Mauerschatten mit einem schwarzen Strich trennte. Wenn man sich hinabbeugte, hätte man meinen können, in dem unbestimmten Licht zwei Spiegel von seltsamer Klarheit und eigenartigem Glanz zu sehen. An sonnigen Vormittagen, wenn kein von den Seilen herabfallender Tropfen die Wasseroberfläche trübte, hoben sich diese Spiegel, dieser Widerschein des Himmels, weiß von dem grünen Wasser ab und gaben mit eigentümlicher Genauigkeit die Blätter einer Efeuranke wieder, die oberhalb des Brunnens an der Mauer entlang wuchs.
Eines Morgens zu sehr früher Stunde beugte sich Silvère, der den Wasservorrat für Tante Dide holen wollte, in dem Augenblick, da er das Seil faßte, unbewußt vor. Da fuhr er zusammen und verharrte dann regungslos in seiner gebückten Stellung. Er hatte geglaubt, unten im Brunnen den Kopf eines jungen Mädchens zu sehen, das ihn anlächelte. Aber er hatte das Seil zum Schwanken gebracht, die bewegte Wasseroberfläche war nur noch ein trüber Spiegel, der nichts mehr deutlich wiedergab. Er wartete, bis sich das Wasser beruhigte, und wagte nicht, sich zu rühren, während sein Herz stürmisch klopfte. Und in dem Maße, wie die Ringe im Wasser sich erweiterten und vergingen, sah er, wie sich die Erscheinung neu bildete. Sie wurde lange von der Wellenbewegung geschaukelt, was ihren Zügen eine verschwommene geisterhafte Anmut verlieh. Endlich kam sie zur Ruhe. Es
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