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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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der tolle Einfall, hinabzusteigen, sich auf den Vorsprung aus großen Quadern zu setzen, der einige Zentimeter über dem Wasserspiegel eine Art Rundbank bildete; dort wollten sie ihre Füße ins Wasser tauchen, wollten sich stundenlang unterhalten, ohne daß es irgend jemandem einfallen würde, sie an diesem Ort zu suchen. Fragten sie sich aber, was es wohl da unten geben möge, so kehrte ihre unbestimmte Angst wieder, und sie meinten, es sei schon genug, ihre Ebenbilder in die Tiefe hinabgleiten zu lassen zu den grünen Lichtern, die das Gestein mit seltsamen Spiegelungen fleckten, und zu den sonderbaren Geräuschen, die aus den dunklen Winkeln heraufstiegen. Besonders diese Geräusche aus dem Unsichtbaren beunruhigten sie. Oft schien es ihnen, als antworteten Stimmen den ihren; dann schwiegen Miette und Silvère und vernahmen tausend leise Klagen, die sie sich nicht erklären konnten: das heimliche Arbeiten der Feuchtigkeit, ein Seufzen der Luft, Wassertropfen, die über die Steine rannen und deren Fall den tiefen Ton eines Schluchzens hatte. Um sich gegenseitig zu beruhigen, nickten sie einander liebevoll zu. So besaß der Zauber, der sie mit aufgestützten Ellenbogen am Brunnenrand verweilen ließ, wie jeder prickelnde Reiz seinen Stachel geheimen Grauens. Dennoch blieb der Brunnen ihr alter Freund. Er war ein so ausgezeichneter Vorwand für ihr Stelldichein! Justin, der jeden Schritt Miettes belauerte, fand niemals etwas Verdächtiges an dem Eifer, mit dem sie morgens Wasser holen ging. Manchmal sah er von weitem, wie sie sich vornüberneigte und sich so versäumte. »Oh, diese Trödelliese!« murrte er dann. »Sie vergnügt sich wahrhaftig damit, Kreise im Wasser zu machen!« Wie hätte er auch vermuten können, daß jenseits der Mauer ihr Schatz das Lächeln des Mädchens im Wasser betrachtete und dabei sagte: »Wenn Justin, dieser rothaarige Esel, dich schlecht behandelt, brauchst du es nur mir zu sagen, dann wird er von mir hören.«
    Dieses Spiel dauerte länger als einen Monat. Es war Juli. Schon am Morgen war es sengend heiß in der weißglühenden Sonne, und es war eine Wonne, in den feuchten Winkel zu flüchten. Es tat wohl, zu der Stunde, da der himmlische Brand aufflammte, den eisigen Hauch des Brunnens im Gesicht zu spüren, sich im Wasser dieser Quelle zu lieben. Miette kam ganz außer Atem über die Stoppelfelder gerannt; im Lauf flatterten die Löckchen um Stirn und Schläfen. Sie nahm sich kaum Zeit, ihren Krug abzustellen, beugte sich über den Brunnenrand, hochrot, zerzaust und von Lachen geschüttelt. Und Silvère, der fast immer der erste beim Stelldichein war, hatte, wenn er sie mit ihrer heiteren und tollen Hast im Wasserspiegel erscheinen sah, die gleiche starke Empfindung, die er verspürt haben würde, wenn sich Miette plötzlich an irgendeiner Wegbiegung in seine Arme gestürzt hätte. Rings um sie her jubilierte der Frohsinn des strahlenden Morgens; eine Flut heißen Lichts, vom Gesumm der Insekten erfüllt, brandete gegen die alte Mauer, die Pfosten und die Randsteine. Sie aber sahen nicht mehr die Lichtwogen der Morgensonne, hörten nicht mehr die tausend Geräusche, die vom Erdboden aufstiegen: Sie weilten in der Tiefe ihres grünen Verstecks, unter der Erde, in diesem geheimnisvollen und irgendwie schaurigen Loch, vergaßen alles und genossen mit zitternder Freude die Kühle und das Halbdunkel.
    Miette, deren Natur sich nicht mit langen Betrachtungen begnügen konnte, war manchmal zu Neckereien aufgelegt. Sie bewegte das Seil, ließ absichtlich Wassertropfen hinunterfallen, die die klaren Spiegelflächen kräuselten und die Bilder verzerrten. Silvère bat sie flehentlich, sich ruhig zu verhalten. Er kannte in seiner verhaltenen Leidenschaftlichkeit kein größeres Vergnügen, als das Gesicht der Freundin anzuschauen, das dort unten in der ganzen Reinheit seiner Züge gespiegelt wurde. Doch sie hörte nicht auf ihn, machte Spaß, sprach mit tiefer Stimme, mit der Stimme eines Kinderschrecks, die das Echo rauh und lieblich zugleich machte.
    »Nein, nein!« brummte sie. »Heute habe ich dich gar nicht lieb, ich schneide dir eine Fratze. Sieh nur, wie häßlich ich bin!« Und sie ergötzte sich an den wunderlichen Formen, die ihre auf dem Wasser tanzenden, ins Breite verzerrten Gesichter annahmen.
    Eines Morgens wurde sie ernstlich böse. Sie fand Silvère nicht am Treffpunkt und wartete fast eine Viertelstunde auf ihn, während der sie erfolglos die Rolle quietschen ließ. Gerade

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