Das Glück der Familie Rougon - 1
einen eiligen Sprung rückwärts. Wie ein Feinschmecker genoß er diese grausame Aufklärung. Wenn sich sein Vater des geringsten Versehens wegen gegen das Kind ereiferte, ergriff Justin sofort Partei gegen Miette, glücklich, sie gefahrlos beschimpfen zu können. Und wenn Miette versuchte, sich zu verteidigen, so hieß es: »Geh! Du kannst dein Blut nicht verleugnen. Du wirst im Zuchthaus enden, genau wie dein Vater!« Dann schluchzte Miette kraftlos, im Innersten getroffen, niedergeschmettert vor Scham.
Zu jener Zeit war sie schon kein Kind mehr. Frühzeitig gereift, konnte sie den Qualen mit ungewöhnlicher Willenskraft standhalten. Sie ließ sich selten gehen, nur in den Stunden, in denen ihr angeborener Stolz unter den schweren Beleidigungen ihres Vetters ermattete. Bald ertrug sie trockenen Auges die unaufhörlichen Kränkungen dieses Feiglings, der sie, während er sprach, sorgfältig beobachtete, aus Angst, sie könnte ihm ins Gesicht springen. Dann wußte sie ihn dadurch zum Schweigen zu bringen, daß sie ihn fest ansah. Schon mehrmals wäre sie gern aus dem Jas Meiffren geflohen. Aber sie tat es nicht, denn sie wollte ihren Mut beweisen und sich nicht eingestehen müssen, die Verfolgungen, die sie erduldete, hätten sie bezwungen. Alles in allem verdiente sie ja ihr Brot; sie hatte sich ihr Gastrecht bei den Rébufats nicht erstohlen. Diese Gewißheit genügte ihrem Stolz. So blieb sie also, um zu kämpfen, stemmte sich gegen ihr Unglück, lebte im ständigen Gedanken an Widerstand. Sie machte es sich zur Lebensregel, schweigend ihre Pflicht zu tun und sich für alle schlimmen Worte durch stumme Verachtung zu rächen. Sie wußte, daß ihr Onkel sie allzusehr ausnutzte, um den Einflüsterungen Justins, der so sehr wünschte, sie vor die Tür zu jagen, ohne weiteres Glauben zu schenken. Deshalb setzte sie eine Art Trotz darein, nicht von sich aus fortzugehen.
Die langen Stunden freiwilligen Schweigens waren erfüllt von seltsamen Träumereien. Während Miette ihre Tage innerhalb des Anwesens zubrachte, abgeschnitten von der Außenwelt, wuchs sie in ständiger innerlicher Auflehnung heran und bildete sich Ansichten, die die biederen Einwohner der Vorstadt nicht wenig erschreckt haben würden. Vor allem beschäftigte sie das Schicksal ihres Vaters. Alle böswilligen Äußerungen Justins kamen ihr wieder in den Sinn. Über die Beschuldigung, ihr Vater sei ein Mörder, beruhigte sie sich schließlich mit der Überlegung, daß ihr Vater den Gendarmen mit Recht getötet habe, weil jener ihn hatte töten wollen. Den wahren Sachverhalt hatte sie aus dem Munde eines Erdarbeiters erfahren, der einmal im JasMeiffren arbeitete. Von jetzt an wandte sie bei ihren seltenen Ausgängen nicht einmal mehr den Kopf, wenn ihr die Taugenichtse der Vorstadt nachliefen und grölten: »Seht da, die Chantegreil!«
Sie beschleunigte dann ihre Schritte, die Lippen fest aufeinandergepreßt, und ihre Augen waren schwarz vor Zorn. Wenn sie bei der Heimkehr das Gittertor hinter sich schloß, warf sie einen einzigen langen Blick auf die Bande der Gassenjungen. Sie würde schlecht geworden und zur qualvollen Menschenscheu der Ausgestoßenen herabgesunken sein, wenn sie nicht zuweilen in ihrem Herzen wieder ganz Kind gewesen wäre. Ihre elf Jahre ließen sie in Kleinmädchenschwächen verfallen, die ihr Erleichterung verschafften. Dann weinte sie, schämte sich ihrer selbst und ihres Vaters. Sie lief in den Pferdestall und versteckte sich dort, um sich nach Herzenslust auszuschluchzen, denn sie wußte, daß man sie nur noch mehr quälen würde, falls man ihre Tränen entdeckte. Und wenn sie sich ausgeweint hatte, wusch sie sich in der Küche die Augen und nahm wieder ihr verschlossenes Gesicht an. Es war nicht nur Selbstschutz, was sie ihren Kummer verbergen ließ, sie trieb in ihrer Kraft den Stolz so weit, daß sie nicht mehr als Kind gelten wollte. Mit der Zeit wäre sie gänzlich verbittert. Glücklicherweise wurde sie davor bewahrt, indem sie die Zärtlichkeit ihrer liebevollen Natur wiederfand.
Der Brunnen im Hof des von Tante Dide und Silvère bewohnten Hauses gehörte zu beiden Grundstücken. Die Mauer des JasMeiffren teilte ihn in zwei Hälften. Früher, bevor das Anwesen der Fouques mit der benachbarten großen Besitzung zusammengelegt wurde, benutzten die Gemüsegärtner diesen Brunnen tagaus, tagein. Doch seit dem Ankauf jenes Anwesens schöpften die Bewohner des Jas, denen große Wasserbehälter zur Verfügung standen, kaum
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