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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Kameradin, dann das Glück und das Ziel seines Lebens. Wenn er sich abends in den Verschlag, darin er schlief, zurückgezogen und die Lampe am Kopfende seines Gurtbettes aufgehängt hatte, fand er Miette auf jeder Seite des alten verstaubten Bandes wieder, den er aufs Geratewohl von einem Brett über seinem Kopf genommen hatte und nun andächtig las. War in seinen Büchern von einem jungen Mädchen die Rede, einem schönen und guten Geschöpf, so setzte er sofort seine Liebste an ihre Stelle. Auch er selber trat auf. Las er eine romantische Geschichte, so heiratete er zum Schluß Miette oder starb mit ihr. Las er jedoch irgendeine politische Schrift, eine wissenschaftliche Abhandlung über Sozialökonomie – Bücher, die er mit der eigentümlichen Vorliebe der Halbgebildeten für schwierige Lektüre den Romanen vorzog –, so fand er auch hier noch eine Möglichkeit, Miette in Verbindung mit den im Grunde für ihn tödlich langweiligen Dingen zu bringen, die er oft nicht einmal verstand; er glaubte daraus zu erfahren, auf welche Weise er gut und liebevoll zu ihr sein könnte, wenn sie einmal verheiratet wären. So mischte er sie in seine unsinnigsten Träumereien. Durch seine keusche Liebe gefeit gegen die Zweideutigkeiten gewisser Erzählungen aus dem achtzehnten Jahrhundert, die ihm in die Hände fielen, zog er sich in Gedanken besonders gern mit Miette in die MenschheitsbeglückungsUtopien zurück, wie sie heutzutage von großen Geistern geträumt werden, die vom Trugbild eines allgemeinen Glücks betört sind. In seiner Vorstellung waren ohne Miette die Abschaffung der Armut und der endgültige Sieg der Revolution nicht möglich. Nächte fieberhaften Lesens, in denen sich sein angespannter Geist nicht von einem Buch zu trennen vermochte, das er zwanzigmal zur Seite legte und doch immer wieder zur Hand nahm; kurz, Nächte voll wollüstiger Ermattung, die er bis zum Morgen wie einen verbotenen Rausch auskostete. Den Körper eingezwängt zwischen den Wänden des engen Kämmerchens, den Blick getrübt von dem gelben, unsicheren Licht der Lampe, ertrug er gern das Augenbrennen einer schlaflosen Nacht und schmiedete Pläne für eine neue Gesellschaftsordnung, törichte und hochherzige Pläne, in denen sämtliche Völker anbetend vor der Frau, die immer Miettes Züge trug, auf den Knien lagen. Durch gewisse ererbte Anlagen hatte er eine Vorliebe für solche Utopien; die nervösen Störungen seiner Großmutter wurden bei ihm zu chronischer Schwärmerei, zur Begeisterung für alles, was großartig und unerreichbar war. Seine einsame Kindheit, seine Halbbildung hatten diesen Hang seines Wesens besonders begünstigt. Aber er war noch nicht in dem Alter, in dem sich eine fixe Idee im Gehirn eines Menschen einnistet. Sobald er seinen Kopf morgens in einem Eimer Wasser gekühlt hatte, blieb ihm von seinen Träumen nichts als eine von kindlicher Gläubigkeit und unaussprechlicher Liebe erfüllte Scheu. Er wurde wieder zum Kind; er lief zum Brunnen, in dem einzigen Verlangen, das Lächeln seiner Liebsten wiederzufinden, das Glück des strahlenden Morgens zu genießen. Und wenn ihn im Laufe des Tages Gedanken an die Zukunft beschäftigten, küßte er oft auch in plötzlich aufwallender Zärtlichkeit Tante Dide auf beide Wangen. Sie schaute ihm dann in die Augen, wie von Unruhe darüber ergriffen, daß sie so klar und tief waren von einem Glück, das sie wiederzuerkennen glaubte.
    Nach und nach wurden Miette und Silvère es jedoch ein wenig müde, den andern immer nur als Schatten zu sehen. Ihr Spielzeug war abgenutzt, und sie träumten von lebendigeren Freuden, die der Brunnen ihnen nicht schenken konnte. In dem Bedürfnis nach Wirklichkeit, das sie überkam, hätten sie sich jetzt gern von Angesicht zu Angesicht gesehen, wären gern in Wald und Flur umhergestreift und außer Atem zurückgekehrt, jeder den andern mit einem Arm umfaßt haltend, fest aneinandergedrückt, um ihre Freundschaft stärker zu fühlen. Silvère sprach eines Morgens davon, daß er einfach über die Mauer steigen und mit Miette im Jas umherspazieren wolle. Doch das Kind flehte ihn an, nicht eine Torheit zu begehen, die sie auf Gnade und Ungnade Justin ausliefern würde. Er versprach, eine andere Möglichkeit ausfindig zu machen.
    Die Mauer, in die der Brunnen eingefügt war, machte wenige Schritte von ihm entfernt eine plötzliche Biegung, die eine Art von Nische bildete, worin die Liebenden vor allen Blicken geschützt sein würden, falls es ihnen

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