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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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und über die Schwelle lief. Und Macquart war da und wartete auf sie. Sie hängte sich an seinen Hals, sie lag an seiner Brust, während die aufgehende Sonne, die mit ihr durch die Pforte in den Hof gekommen war – auch sie nahm sich nicht die Zeit, die Tür wieder zu schließen –, sie beide mit ihren schrägen Strahlen überflutete. Eine plötzliche Vision, die wie eine letzte Strafe Tante Dide grausam aus dem Schlummer ihrer alten Tage riß und in ihr die brennenden Wunden der Erinnerung aufbrechen ließ. Niemals war ihr der Gedanke gekommen, daß sich diese Tür noch einmal öffnen könnte. Für sie hatte Macquarts Tod sie vermauert. Wäre der Brunnen mit dem ganzen Gemäuer in die Erde gesunken, so hätte ihre Bestürzung nicht größer sein können. Und in ihrem Erstaunen stieg halb unbewußt Empörung auf gegen die ruchlose Hand, die diese Schwelle entheiligt und hinter sich wie ein offenes Grab die helle Lücke zurückgelassen hatte. Wie von einer Zaubermacht angezogen, ging sie vorwärts. Und jetzt stand sie regungslos im Türrahmen.
    Von hier schaute sie schmerzlich überrascht um sich. Man hatte ihr zwar gesagt, daß das Grundstück der Fouques mit dem JasMeiffren zusammengelegt worden war, aber niemals hätte sie gedacht, daß ihre Jugend in diesem Grade erstorben sei. Ein Sturmwind schien alles weggefegt zu haben, was ihrer Erinnerung teuer war. Das alte Haus, der große Garten mit seinen grünen Gemüsebeeten waren verschwunden. Kein Stein, kein Baum mehr von früher. Und an der Stelle dieses Fleckchens Erde, wo sie aufgewachsen war und das sie noch am Vortage vor sich gesehen hatte, wenn sie die Augen schloß, erstreckte sich jetzt ein Streifen kahlen Bodens, ein großes Stoppelfeld, trostlos wie eine öde Heide. Wenn sie von nun an mit geschlossenen Lidern die Dinge der Vergangenheit heraufrufen wollte, würde ihr immer dieses Stoppelfeld erscheinen wie ein Leichentuch aus grober, gelblicher Wolle, das man über die Erde geworfen hatte, in der ihre Jugend begraben lag. Als sie dieses alltäglichen und gleichgültigen Horizontes gewahr wurde, glaubte sie, ihr Herz stürbe zum zweiten Male. Jetzt war alles endgültig aus. Man nahm ihr sogar die Träume ihrer Erinnerungen. Nun bereute sie, der Anziehungskraft dieser hellen Lücke, dieses gähnenden Tores zu den für immer entschwundenen Tagen nachgegeben zu haben.
    Gerade wollte sie sich zurückziehen, wollte die verfluchte Pforte schließen, ohne auch nur den Versuch zu machen, festzustellen, welche Hand sie entweiht habe, als sie Miette und Silvère bemerkte. Der Anblick der beiden verliebten Kinder, wie sie verwirrt und mit gesenktem Kopf ihren Blick erwarteten, hielt sie, von einem noch heftigeren Schmerz durchdrungen, auf der Schwelle zurück. Jetzt begriff sie. Sie sollte sich vollends wiederfinden, sich und Macquart, Arm in Arm, im Licht des jungen Tages. Zum zweitenmal war die Pforte zum Mitschuldigen geworden. Wo die Liebe einst hindurchgeschritten, schritt sie abermals hindurch. Es war der ewige Wiederbeginn mit seinen Freuden am Anfang und seinen Tränen am Ende. Tante Dide sah nur die Tränen, und ein jähes Vorgefühl zeigte ihr die beiden Kinder blutüberströmt, ins Herz getroffen. Erschüttert von den Erinnerungen an die Leiden ihres eigenen Lebens, die dieser Ort in ihr wieder wachgerufen hatte, beweinte sie schon ihren geliebten Silvère. Sie allein war die Schuldige; hätte sie nicht einst das Mauerwerk durchbrochen, so läge Silvère jetzt nicht in diesem verlorenen Winkel einem Mädchen zu Füßen, um sich an einem Glück zu berauschen, das den Tod reizt und ihn neidisch macht.
    Nachdem sie eine Weile schweigend dagestanden hatte, kam sie, ohne ein Wort zu sagen, und nahm den jungen Burschen bei der Hand. Vielleicht hätte sie die beiden ruhig am Fuß der Mauer plaudern lassen, wäre sie sich nicht mitschuldig vorgekommen an diesen tödlichen Freuden. Während sie mit Silvère ins Haus zurückkehrte, wandte sie sich nochmals um, da sie Miettes leichten Schritt hörte, die eiligst ihren Krug ergriffen hatte und über das Stoppelfeld floh. Sie rannte wie toll, glücklich darüber, so leichten Kaufs davongekommen zu sein. Tante Dide mußte unwillkürlich lächeln, als sie das Mädchen wie eine flüchtende Geiß über das Feld laufen sah.
    »Sie ist noch sehr jung«, murmelte sie. »Sie hat noch Zeit.« Sicherlich wollte sie sagen, daß Miette noch Zeit zum Leiden und Weinen habe. Dann wandte sie den Blick Silvère zu, der ganz

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