Das Glück der Familie Rougon - 1
gelänge, sich dorthin zu flüchten. Es handelte sich also darum, zu dieser Nische zu kommen. Silvère durfte nicht mehr daran denken, über die Mauer zu klettern, da diese Absicht Miette so sehr erschreckt zu haben schien. Er hegte im stillen einen anderen Plan. Die kleine Pforte, die Macquart und Adélaïde einstmals in einer einzigen Nacht in diesem verlorenen Winkel des großen Nachbargrundstückes ausgebrochen hatten, war in Vergessenheit geraten. Man hatte nicht einmal daran gedacht, sie zuzumauern. Schwarz vor Feuchtigkeit, grün von Moos, Schloß und Angeln von Rost zerfressen, bildete sie gleichsam einen Teil der alten Mauer. Sicherlich war der Schlüssel verlorengegangen; das Gras, das üppig unten vor den Türbrettern wucherte, vor denen kleine Böschungen entstanden waren, bewies zur Genüge, daß seit vielen Jahren niemand mehr diese Pforte benutzte. Diesen verlorengegangenen Schlüssel hoffte Silvère wiederzufinden. Er wußte, mit welch frommer Ehrfurcht Tante Dide die Reliquien der Vergangenheit an Ort und Stelle vermodern ließ. Acht Tage lang durchstöberte er das Haus, jedoch ohne Erfolg. Jede Nacht schlich er auf Zehenspitzen hinaus, um zu sehen, ob er endlich tagsüber den richtigen Schlüssel erwischt hatte. So versuchte er es mit mehr als dreißig, die zweifellos von dem früheren Anwesen der Fouques stammten und die er im Laufe der Tage überall auf den Wandbrettern und in den Schubladen zusammenlas. Er war schon nahe daran, den Mut zu verlieren, als er endlich den glückspendenden Schlüssel fand. Der war ganz einfach mit einer Schnur an den Haustorschlüssel gebunden, der stets im Schlüsselloch steckenblieb. Er hing dort schon an die vierzig Jahre. Täglich mußte ihn Tante Dide mit der Hand berührt haben, ohne sich jemals zu entschließen, ihn jetzt verschwinden zu lassen, da er ihr nur schmerzlich ihre erstorbenen Wonnen vergegenwärtigte. Als sich Silvère vergewissert hatte, daß der Schlüssel wirklich das Pförtchen öffnete, wartete er ungeduldig auf den folgenden Morgen und malte sich dabei die Freude und Überraschung aus, die er Miette bereiten würde. Er hatte seine Nachforschungen vor ihr geheimgehalten.
Sobald er am andern Morgen hörte, wie das Mädchen seinen Krug abstellte, öffnete er leise die Pforte, deren Schwelle er mit einem einzigen Stoß von dem hohen Gras befreite. Als er den Kopf vorstreckte, sah er Miette über die Einfassung in die Tiefe schauen, ganz ins Warten versunken. Mit zwei großen Schritten erreichte er die Mauernische und rief von dort mit gedämpfter Stimme: »Miette! Miette!« Sie fuhr zusammen und blickte in die Höhe, weil sie ihn oben auf der Mauer vermutete. Dann, als sie ihn im Jas gewahrte, wenige Schritte nur von sich entfernt, stieß sie einen leisen Schrei des Erstaunens aus und lief zu ihm hin. Sie faßten sich bei den Händen, sahen sich aufmerksam an, überglücklich, einander so nahe zu sein, und kamen sich gegenseitig so im warmen Sonnenlicht viel schöner vor. Es war Mitte August, am Tage Mariä Himmelfahrt. In der Ferne läuteten die Glocken mit dem glasklaren Ton hoher Festtage, der den eigentümlichen Hauch blonder Fröhlichkeit zu haben scheint.
»Guten Morgen, Silvère!«
»Guten Morgen, Miette!«
Und die Stimme, mit der sie ihren Morgengruß austauschten, setzte sie in Erstaunen. Sie kannten nur ihren durch das Echo des Brunnens verschleierten Klang. Hell erschien sie ihnen jetzt wie ein Lerchenlied. Ach, wie wohl fühlten sie sich in diesem warmen Eckchen, in diesem Festtagston! Sie hielten einander immer noch bei den Händen, Silvère mit dem Rücken gegen die Mauer gelehnt, Miette ein wenig zurückgebeugt. Zwischen ihnen stand ihr Lächeln wie ein Leuchten. Sie wollten einander gerade all die lieben Dinge sagen, die sie dem dumpfen Hall des Brunnens nicht anzuvertrauen gewagt hatten, als Silvère bei einem leisen Geräusch den Kopf wandte, blaß wurde und Miettes Hände losließ. Er hatte soeben Tante Dide erblickt, die hochaufgerichtet auf der Schwelle der Pforte stand.
Ganz zufällig war die Großmutter zum Brunnen gekommen. Als sie in dem alten, schwarzen Gemäuer die helle Öffnung der Tür bemerkte, die Silvère ganz weit aufgemacht hatte, fühlte sie einen heftigen Stich im Herzen. Diese helle Öffnung erschien ihr wie ein Abgrund voller Licht, den eine rohe Hand in ihre Vergangenheit gegraben hatte. Sie sah sich selber wieder im Morgenlicht, wie sie mit dem Ungestüm ihrer nervösen Liebesleidenschaft herbeieilte
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