Das Glück der Familie Rougon - 1
verzückt dem in der glasklaren Sonne davonlaufenden Mädchen nachsah, und fügte nur hinzu: »Nimm dich in acht, mein Junge, man stirbt daran.«
Das waren die einzigen Worte, die sie bei diesem Erlebnis, das alle in ihrem tiefsten Herzen schlummernden Schmerzen aufwühlte, hervorbrachte. Das Schweigen war ihr zu einer Gewissenssache geworden. Als Silvère ins Haus gegangen war, schloß sie die Pforte doppelt ab und warf den Schlüssel in den Brunnen. So konnte sie gewiß sein, daß jene Tür sie niemals mehr mitschuldig machen würde. Sie schaute das Pförtchen noch einmal prüfend an und war glücklich darüber, daß es wieder so düster und unbeweglich aussah wie früher. Das Grab war wieder geschlossen, die helle Lücke für immer gestopft durch die wenigen Bretter, die schwarz waren vor Feuchtigkeit, grün von Moos, und auf denen die Weinbergschnecken silberne Tränen geweint hatten.
Am Abend bekam Tante Dide eine ihrer Nervenkrisen, von denen sie immer noch von Zeit zu Zeit geschüttelt wurde. Während solcher Anfälle sprach sie oft mit lauter Stimme, zusammenhanglos, wie in einem Alptraum. Diesmal hörte Silvère, der sie, erfüllt von brennendem Mitleid mit diesem armen, verkrampften Körper, auf ihrem Bett stützte, wie sie keuchend die Worte »Zollwächter … Schuß … Mord!« hervorbrachte. Und sie stritt sich, flehte um Gnade, plante Rache. Als die Krise zu Ende ging, bekam sie wie immer eine seltsame Angst, einen solchen Schauder des Entsetzens, daß ihr die Zähne klapperten. Sie richtete sich halb auf, blickte in wirrem Erstaunen in alle Stubenecken und ließ sich dann unter langen Seufzern auf das Kopfkissen zurückfallen. Ohne Zweifel hatte sie Wahnvorstellungen. Dann zog sie Silvère an ihre Brust, schien ihn nach und nach wiederzuerkennen, verwechselte ihn aber von Zeit zu Zeit mit jemand anderem.
»Da sind sie«, stammelte sie. »Siehst du, sie werden dich holen, sie werden dich noch umbringen … Ich will nicht … Schick sie fort, sag ihnen, daß ich nicht will, daß sie mir weh tun, wenn sie mich so anstarren …« Und sie drehte sich zur Wand, um die Leute, von denen sie sprach, nicht mehr zu sehen. Nach einer Weile fuhr sie fort: »Du bist doch bei mir, mein Kind, nicht wahr? Du darfst mich nicht allein lassen … Ich glaubte vorhin, ich müßte sterben … Wir taten unrecht, als wir die Mauer durchbrachen. Von jenem Tag an habe ich gelitten. Ich wußte wohl, daß diese Pforte uns noch Unglück bringen würde … Ach, die armen unschuldigen Kinder, wie viele Tränen! Man wird auch sie mit Flintenschüssen umbringen, wie Hunde.«
Sie verfiel wieder in ihren Krampf zustand; sie wußte nicht einmal mehr, daß Silvère bei ihr war. Plötzlich richtete sie sich auf und starrte mit einem Ausdruck furchtbaren Schreckens auf das Fußende ihres Bettes.
»Warum hast du sie nicht weggeschickt?« schrie sie und barg den grauen Kopf an der Brust des Burschen. »Sie sind immer noch da. Der da mit der Flinte macht mir ein Zeichen, daß er gleich schießen wird …«
Bald darauf fiel sie in einen schweren Schlaf, der ihre Anfälle immer beendete. Am nächsten Tag schien sie alles vergessen zu haben. Nie wieder sprach sie mit Silvère von dem Morgen, an dem sie ihn mit einer Liebsten jenseits der Mauer gefunden hatte.
Zwei Tage lang sahen sich die jungen Leute nicht. Als Miette endlich zum Brunnen zurückzukehren wagte, versprachen sie einander, niemals mehr den unüberlegten Streich von vorgestern zu wiederholen. Ihre so plötzlich unterbrochene Begegnung hatte jedoch das lebhafte Verlangen in ihnen geweckt, sich wieder allein zu treffen, irgendwo in einer glücklichen Verborgenheit. Da Silvère der Freuden, die der Brunnen ihnen bot, müde war und er Tante Dide nicht dadurch betrüben wollte, daß er Miette jenseits der Mauer besuchte, bat er das Mädchen inständig, ihm anderswo ein Stelldichein zu geben. Sie ließ sich übrigens nicht lange bitten; sie nahm den Vorschlag mit dem zufriedenen Lachen eines kleinen Mädchens auf, das noch an nichts Arges denkt. Was sie zum Lachen reizte, war der Gedanke, dem Justin, diesem Spionierer, ein Schnippchen zu schlagen. Als die Liebenden einig waren, berieten sie lange über die Wahl eines Treffpunkts. Silvère schlug unmögliche Verstecke vor; er wollte förmlich Reisen machen oder um Mitternacht mit dem jungen Mädchen in den Speichern des JasMeiffren zusammenkommen. Die praktischere Miette zuckte mit den Achseln und erklärte, selber einen Ort suchen zu
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