Das Glück der Familie Rougon - 1
finden, brauchte er nur eine Höhle in einem der Bretterstapel herzustellen; er zog einige Planken heraus und richtete es so ein, daß sie nachher locker genug lagen, um mühelos wieder an Ort und Stelle gebracht werden zu können. Jetzt stand den Liebenden eine Art niedriges, enges Schilderhaus zur Verfügung, ein viereckiges Loch, darin sie nur ganz eng aneinandergepreßt auf einem Balkenende sitzen konnten, das sie im Hintergrund ihres Häuschens übriggelassen hatten. Wenn es vom Himmel goß, zog sich der, welcher zuerst kam, dorthin zurück, und waren sie dann zusammen, so lauschten sie mit unendlichem Behagen auf den Platzregen, der auf dem Bretterstapel einen dumpfen Trommelwirbel schlug. Vor ihnen, rings um sie her war in der Tintenschwärze der Nacht ein großes Rauschen, von dem sie nichts sahen und dessen ununterbrochenes Geräusch der lauten Stimme einer Volksmenge glich. Doch die beiden waren ganz allein am Ende der Welt, tief unter dem Wasser. Niemals fühlten sie sich so glücklich, so abgesondert von den anderen Menschen wie inmitten dieser Sintflut, in diesem Bretterstapel, jeden Augenblick in Gefahr, von den Himmelsfluten weggeschwemmt zu werden. Ihre gespreizten Knie ragten fast bis an die Öffnung, und sie verkrochen sich so tief wie möglich, Wangen und Hände von feinem Regenstaub benetzt. Zu ihren Füßen klatschten in gleichmäßigem Takt dicke Tropfen von den Brettern herab. Und es wurde ihnen heiß in der braunen Pelisse; sie waren so eingeengt, daß Miette halb auf Silvères Knien saß. Erst schwatzten sie, dann schwiegen sie, müde geworden, eingelullt von der Wärme ihrer Umarmung und dem eintönigen Rauschen des Regens. Stundenlang blieben sie so sitzen, sie liebten den Regen wie die kleinen Mädchen, die ernsthaft mit aufgespanntem Schirm im Gewitterregen umherspazieren. Mit der Zeit wurden ihnen die Regenabende die liebsten. Nur das Auseinandergehen fiel ihnen dann noch schwerer. Miette mußte unter prasselndem Regen über ihre Mauer klettern und bei völliger Dunkelheit die Wasserpfützen des JasMeiffren durchwaten. Sobald sie sich aus Silvères Armen gelöst hatte, sah und hörte er in der Dunkelheit und dem Geplätscher nichts mehr von ihr. Wie betäubt und geblendet lauschte er vergebens. Aber die Unruhe, in der diese plötzliche Trennung die beiden zurückließ, war nur ein Reiz mehr; bis zum nächsten Morgen machten sie sich Gedanken darüber, ob dem andern bei diesem Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür gejagt hätte, auch nichts zugestoßen sei. Er konnte vielleicht ausgeglitten sein, konnte sich verirrt haben, Ängste, um derentwillen sie sich gebieterisch miteinander beschäftigen mußten und die ihr nächstes Zusammentreffen nur um so zärtlicher machten.
Endlich kehrten die schönen Tage wieder; der April brachte laue Nächte. Das Gras in dem grünen Gang wuchs wie toll. In diesem Lebensstrom, der vom Himmel herabfloß und von der Erde aufstieg, inmitten des Rausches dieser Frühlingszeit, sehnten sich die Liebenden zuweilen nach ihrer winterlichen Einsamkeit zurück, nach den Regenabenden, den eiskalten Nächten, in denen sie so weltverloren gewesen waren, so fern vom Lärm der Menschen. Jetzt sank der Abend viel zu spät herab. Sie verwünschten die lange Dämmerung, und war die Nacht endlich dunkel genug geworden, daß Miette ohne Gefahr, gesehen zu werden, über die Mauer klettern konnte, war es ihnen endlich gelungen, sich in ihren lieben Gang zu schleichen, so fanden sie dort nicht mehr die Einsamkeit, die der Scheu dieser verliebten Kinder so wohl gefiel. Der SaintMittreHof bevölkerte sich. Die Vorstadtjungen jagten einander bis elf Uhr abends schreiend auf den Balken; manchmal versteckte sich sogar einer von ihnen hinter den Bretterstapeln und warf Silvère und Miette das freche Lachen eines zehnjährigen Taugenichts zu. Die Angst, erwischt zu werden, das erwachende Leben um sie her, dessen Gelärm mit der wärmeren Jahreszeit ständig zunahm, erfüllten ihre Zusammenkünfte mit Unruhe.
Später begannen sie in dem engen Gang allmählich zu ersticken. Noch nie war er von so heißen Schauern durchzittert gewesen, noch nie hatte der Boden, dieses Erdreich, in dem die letzten Knochenreste des einstigen Friedhofs schlummerten, einen verwirrenderen Odem ausgeströmt. Und die beiden waren noch zu sehr Kinder, um den wollüstigen Reiz dieses abgelegenen, im Frühlingsfieber glühenden Winkels zu genießen. Das Gras reichte ihnen bis zu den Knien und erschwerte
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