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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Unterhaltungen und genossen dabei Liebesfreuden, ohne auch nur von Liebe zu sprechen, allein durch die Berührung ihrer Fingerspitzen. Ganz unbewußt suchten sie gegenseitig die Wärme ihrer Hände, ohne zu ahnen, wonach ihre Sinne und ihre Herzen strebten. In diesen Stunden glücklicher Unbefangenheit verbargen sie sich sogar die seltsame Erregung, die eines im anderen bei der leisesten Berührung erweckte. Sie lächelten zuweilen erstaunt über die Süßigkeit, die sie durchströmte, sobald sie einander auch nur streiften, und überließen sich heimlich dem Wohligweichen ihrer neuen Gefühle, während sie immer noch dabei wie zwei Schulkinder über die Elsternester schwatzten, an die man so schwer herankommt.
    Und sie ergingen sich in der Stille des Weges zwischen den Bretterstapeln und der Mauer des Jas Meiffren. Niemals überschritten sie das Ende dieser engen Sackgasse, sondern kehrten dort jedesmal wieder um. Sie fühlten sich zu Hause.
    Oft blieb Miette, zufrieden mit ihrem guten Versteck, stehen und lobte sich ob ihrer Entdeckung. »Was habe ich doch für einen guten Einfall gehabt!« sagte sie strahlend. »Wir könnten meilenweit gehen, ohne einen so guten Unterschlupf zu finden!«
    Das dichte Gras erstickte das Geräusch ihrer Schritte. Sie badeten in einer Flut von Dunkelheit, wurden zwischen zwei schattigen Ufern dahingewiegt und sahen nur einen tiefblauen, von Sternen übersäten Streifen hoch über ihren Köpfen. Und durch das weiche Federn des Bodens, über den sie auf und ab wanderten, durch die Ähnlichkeit des Ganges mit einem schattigen Bach, der unter dem schwarzgoldenen Himmel dahinfloß, empfanden sie eine unerklärliche Erregung des Gemüts und dämpften die Stimme, obwohl niemand sie hören konnte. Leib und Seele gelöst, überließen sie sich, an solchen Abenden dem schweigenden Wogen der Nacht, und mit dem leisen Erschauern der Liebenden erzählten sie einander die tausend Nichtigkeiten des Tages.
    Ein andermal, wenn an klaren Abenden der Mond die Umrisse der Mauer und der Bretterstapel deutlich hervorhob, bewahrten Miette und Silvère ihre kindliche Unbekümmertheit. Von weißen Streifen erhellt, freundlich und geheimnislos, lag der Gang da. Und die beiden Spielkameraden jagten einander, lachten wie Schulkinder während der Pausen und wagten sogar, auf die Bretterstapel zu klettern. Silvère mußte Miette mit der Drohung erschrecken, Justin stehe vielleicht hinter der Mauer und belauere sie. Noch ganz außer Atem, gingen sie dann nebeneinander her und nahmen sich vor, einmal auf den SainteClaireWiesen herumzutollen, um zu sehen, wer von beiden den andern am schnellsten fangen würde.
    Ihre aufkeimende Liebe wußte sich so den dunklen und den hellen Nächten anzupassen. Immer waren ihre Herzen wach, und ein wenig Schatten genügte schon, um ihre Umarmung zärtlicher und ihr Lachen weicher und schmachtender zu machen. Ihr liebes Versteck, das im Mondenschein so fröhlich und bei trübem Wetter so voll seltsamer Erregung war, schien unausschöpflich an Ausbrüchen der Heiterkeit und an erschauerndem Schweigen. Und sie blieben dort bis Mitternacht, während die Stadt einschlief und die Fenster der Vorstadt eins nach dem andern verloschen.
    Niemals wurden sie in ihrer Einsamkeit gestört. Zu dieser vorgerückten Stunde spielten die Straßenjungen nicht mehr Versteck hinter den Bretterstapeln. Wenn die jungen Leute manchmal irgendein Geräusch hörten – den Gesang von Arbeitern, die auf der Straße vorbeigingen, oder Stimmen von den benachbarten Bürgersteigen her –, wagten sie einen Blick in den SaintMittreHof. Leer, nur von wenigen Schatten belebt, dehnte sich der Holzplatz vor ihnen aus. An milden Abenden sahen sie die unbestimmten Umrisse von Liebespaaren und alte Leute, die am Rand des breiten Weges auf den dicken Bohlen saßen. Als die Abende kühler wurden, gewahrten sie auf dem trübseligen und verlassenen Hof nur noch ein Zigeunerfeuer, vor dem große schwarze Schatten vorbeistrichen. Die stille Nachtluft trug ihnen einzelne Worte und verlorene Töne zu, den Gutenachtgruß eines Bürgers, der gerade die Haustür schloß, das Klappern eines Fensterladens, den ernsten Stundenschlag der Turmuhren, all die hinsterbenden Laute einer Provinzstadt, die zur Ruhe geht. Und wenn Plassans eingeschlafen war, hörten sie noch das Gezänk der Zigeuner, das Knistern ihres Feuers und dazwischen plötzlich die kehligen Stimmen der jungen Mädchen, die in einer unbekannten, rauhen Sprache Lieder

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