Das Glück der Familie Rougon - 1
wollen. Tags darauf blieb sie nur ganz kurz am Brunnen, gerade lange genug, um Silvère zuzulächeln und ihm zu sagen, er möge sich gegen zehn Uhr abends ganz hinten im SaintMittre Hof einfinden. Man kann sich vorstellen, daß der junge Bursche pünktlich war! Miettes Wahl hatte ihn den ganzen Tag über sehr beschäftigt. Seine Neugierde steigerte sich noch, als er den schmalen Gang hinter den Bretterstapeln am äußersten Ende des Grundstücks betreten hatte. Sie wird von dorther kommen, sagte er sich und schaute in Richtung der Straße nach Nizza. Dann hörte er ein gewaltiges Rauschen in den Zweigen jenseits der Mauer und sah über ihrem Rand einen lachenden Kopf mit zerzaustem Haar auftauchen, der ihm fröhlich zurief:
»Ich bin˜s!«
Und wirklich war es Miette, die wie ein Junge auf einen der Maulbeerbäume geklettert war, die noch heute längs der Einfriedigung des Jas stehen. Mit zwei Sprüngen erreichte sie den halb versunkenen Grabstein in der Mauerecke am Ende des Ganges. Silvère sah erstaunt und glücklich zu, wie sie herabstieg, ohne auch nur daran zu denken, ihr behilflich zu sein. Dann faßte er sie an beiden Händen und sagte:
»Wie flink du bist! Du kletterst besser als ich.«
So trafen sie sich zum erstenmal in diesem abseitigen Winkel, wo sie noch so schöne Stunden verbringen sollten. Seit diesem Abend sahen sie sich hier fast jede Nacht. Der Brunnen diente ihnen nur noch dazu, einander von unvorhergesehenen Hindernissen, die sich ihren Zusammenkünften entgegenstellten, zu verständigen, von Änderungen der Treffzeit, von all den kleinen, in ihren Augen so großen Neuigkeiten, die keinen Aufschub duldeten. Wollte einer dem anderen eine Mitteilung machen, so brauchte er nur die Rolle in Bewegung zu setzen, deren Kreischen man weithin hörte. Doch wenn sie sich auch an manchen Tagen zwei oder dreimal riefen, um einander Nichtigkeiten von ungeheurer Wichtigkeit zu erzählen, so genossen sie ihre wahren Freuden doch erst abends in dem verschwiegenen Gang. Miette war von seltener Pünktlichkeit. Glücklicherweise schlief sie über der Küche in einer Kammer, wo man, ehe Miette ins Haus kam, die Wintervorräte aufbewahrt hatte und zu der ein besonderes Treppchen führte. So konnte sie jederzeit das Haus verlassen, ohne daß weder Vater Rébufat noch Justin es sahen. Übrigens hatte sie vor, falls Justin sie doch einmal beim Nachhausekommen erwischen sollte, ihm irgendein Märchen zu erzählen und ihn dabei mit jenem harten Blick anzusehen, der ihn verstummen ließ.
Ach, diese glücklichen lauen Abende! Es waren die ersten Tage des Septembers, der in der Provence viel Sonnenschein bringt. Die Liebenden konnten sich meistens erst gegen neun Uhr treffen. Miette kam auf ihrem Weg über die Mauer. Sie erlangte bald eine solche Geschicklichkeit beim Überwinden dieses Hindernisses, daß sie fast immer schon auf dem alten Grabstein stand, ehe ihr Silvère die Arme entgegengestreckt hatte. Und dann lachte sie über ihr Kunststück, blieb einen Augenblick außer Atem, mit fliegenden Haaren oben stehen und brachte mit kleinen Klapsen ihren Rock in Ordnung, damit er wieder glatt herunterfiel. Ihr Liebster nannte sie dann im Scherz »verflixter Schlingel«. Im Grunde gefiel ihm die Verwegenheit der Kleinen. Wenn sie über die Mauer setzte, schaute er ihr mit dem Wohlgefallen eines älteren Bruders zu, der den Turnübungen eines seiner jüngeren Brüder beiwohnt. Es gab so viel Kindereien in ihrer erwachenden Liebe! Des öfteren nahmen sie sich vor, einmal am Ufer der Viorne Vogelnester auszunehmen.
»Du wirst sehen, wie ich auf die Bäume klettern kann!« sagte Miette Voller Stolz. »Als ich noch in Chavanoz war, bin ich bis ganz oben in Vater Andrés Nußbäume gestiegen: Hast du jemals Elsternester ausgenommen? Das ist wirklich schwierig!«
Und nun begann eine Unterhaltung darüber, wie man am besten auf Pappeln klettert. Miette sagte ihre Meinung geradeheraus, wie ein Junge.
Mittlerweile hatte Silvère sie um die Knie gefaßt und auf den Boden gestellt, und nun gingen sie Seite an Seite, jeder einen Arm um die Hüfte des anderen gelegt. Während sie sich darüber stritten, wie man die Füße setzen und in den Astgabeln die Hände gebrauchen muß, schmiegten sie sich noch enger aneinander und fühlten, wie in ihren Umschlingungen unbekannte Gluten sie mit seltsamer Freude versengten. Der Brunnen hatte ihnen nie solche Vergnügen verschafft. Sie blieben Kinder mit ihren kindlichen Spielen und
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