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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Schluchzen ihres heißen Blutes. Er hörte von fern das drängende Mahnen der alten Gebeine. Er dachte an die Liebkosungen, die ihnen in der Nacht am Wegrand die Lippen versengt hatten: sie umhalste ihn, sie forderte von ihm die ganze Liebe, und er – er hatte es nicht gewußt; er ließ sie als ein kleines Mädchen von sich gehen, in ihrer Verzweiflung, nicht von den Wonnen des Lebens gekostet zu haben. Trostlos darüber, daß sie nichts von ihm mitnahm als das Andenken an einen Schuljungen, an einen guten Kameraden, küßte er nun ihre jungfräuliche Brust, diesen reinen und keuschen Busen, den er erst jetzt entblößt hatte. Nichts hatte er gewußt von dieser bebenden Brust, dieser wundervollen Reife. Die Tränen liefen ihm über die Lippen. Er preßte seinen schluchzenden Mund auf die Haut des Mädchens. Diese Küsse des Geliebten ließen eine letzte Freude in Miettes Augen aufleuchten. Sie liebten einander, und ihre unschuldige Liebe fand ihre Lösung im Tod.
    Er aber konnte nicht glauben, daß sie im Sterben lag. Er redete auf sie ein: »Nein, du wirst schon sehen, das ist nicht schlimm … Sprich nicht, wenn du Schmerzen hast … Warte, ich will dir den Kopf stützen, dann werde ich dich wärmen, deine Hände sind ja eiskalt.«
    Links, in den Olivenhainen, begann das Schießen wieder. Dumpfe Hufschläge der galoppierenden Kavallerie dröhnten von der Ebene von Nores herauf. Und von Zeit zu Zeit hörte man furchtbare Schreie von Männern, die umgebracht wurden. Dichte Rauchschwaden kamen und zogen unter den Ulmen des Vorplatzes hin. Aber Silvère hörte nichts mehr, sah nichts mehr. Pascal, der gerade eilig zur Ebene hinunterlief, sah ihn am Boden liegen und kam näher, weil er ihn für verwundet hielt. Sobald ihn der junge Bursche erkannt hatte, klammerte er sich an ihn. Er wies auf Miette.
    »Sehen Sie doch bloß«, sagte er, »sie ist verwundet, hier unter der Brust … Ach, wie gut von Ihnen, daß Sie gekommen sind. Sie werden sie retten.«
    In diesem Augenblick lief ein leises Zucken durch den Körper der Sterbenden. Ein schmerzlicher Schatten glitt über ihr Gesicht; ihre zusammengepreßten Lippen öffneten sich, und ein leichter Hauch entfloh ihnen. Ihre weitoffenen Augen blieben auf den jungen Burschen geheftet.
    Pascal, der sich zu ihr gebückt hatte, richtete sich wieder auf und sprach halblaut:
    »Sie ist tot!«
    Tot! Bei diesem Wort wankte Silvère. Er hatte sich wieder hingekniet, jetzt fiel er zurück, wie von Miettes leichtem Hauch umgeworfen.
    »Tot! Tot!« wiederholte er. »Das ist nicht wahr, sie sieht mich doch an … Sie sehen doch, daß sie mich ansieht.« Und er packte den Arzt am Rock und beschwor ihn, nicht fortzugehen. Er versicherte ihm, daß er sich irren müsse, daß sie nicht tot sei, daß er sie retten könne, wenn er nur wolle.
    Pascal wehrte sanft ab und sagte mit seiner gütigen Stimme:
    »Ich kann nichts mehr tun, andere warten auf mich … Laß, mein armer Junge, sie ist wirklich tot, laß!«
    Silvère ließ Pascal los und sank wieder zu Boden. Tot, tot! Immer dasselbe Wort, das wie eine Sterbeglocke in seinem leeren Kopf widerhallte. Als er allein war, schleppte er sich zu der Leiche. Miette sah ihn noch immer an. Da warf er sich über sie, legte den Kopf auf ihre entblößte Brust, badete ihre Haut in seinen Tränen. Es riß ihn hin. Wie besessen drückte er die Lippen auf die erwachende Rundung ihres Busens; in einem einzigen Kuß hauchte er ihr seine ganze Glut, sein ganzes Leben ein, als wolle er sie wiedererwecken. Aber das Mädchen erkaltete unter seinen Liebkosungen. Er fühlte den leblosen Körper in seinen Armen schlaff werden. Entsetzen erfaßte ihn, mit verstörtem Gesicht und hängenden Armen kauerte er sich neben sie, und stumpfsinnig blieb er so hocken und wiederholte unaufhörlich: »Sie ist tot, aber sie sieht mich an. Sie macht die Augen nicht zu, sie sieht mich noch immer.«
    Dieser Gedanke hatte etwas unendlich Süßes für ihn. Er rührte sich nicht mehr. Er tauschte einen langen Blick mit Miette und las in ihren Augen, in diesen Augen, die der Tod noch unergründlicher machte, den letzten Schmerz des Mädchens, das über seine Jungfräulichkeit weinte.
    Unterdessen hieb die Kavallerie in der Ebene von Nores weiter auf die Fliehenden ein; das Pferdegetrappel, die Schreie der Sterbenden klangen immer ferner, immer schwächer, wie eine Musik, die die klare Luft von weit her heranträgt. Silvère wußte nicht mehr, daß noch gekämpft wurde. Er sah auch nicht

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