Das Glück der Familie Rougon - 1
Gesichter finster aus. Traurige Blicke wurden gewechselt. Langes entmutigtes Schweigen stellte sich ein. Erschreckende Gerüchte gingen um; die schlechten Nachrichten, die die Anführer tags zuvor noch geheimzuhalten vermochten, hatten sich verbreitet, ohne daß irgend jemand davon gesprochen hätte, von jenem unsichtbaren Mund weitergeflüstert, der mit einem Atemzug Entsetzen unter die Menge wirft. Es gab Stimmen, die behaupteten, Paris sei bezwungen, die Provinz habe sich auf Gnade oder Ungnade ergeben, und diese Stimmen fügten hinzu, daß zahlreiche Truppen unter dem Oberbefehl von Oberst Masson und von Herrn de Blériot, dem Präfekten52 des Departements, von Marseille aufgebrochen seien und in Gewaltmärschen anrückten, um die Aufständischen zu vernichten. Das führte zu einem Zusammenbruch, zu einem Erwachen voll Zorn und Verzweiflung. Dieselben Männer, die noch gestern vor patriotischem Fieber glühten, fühlten, wie sie jetzt in der großen Kälte des unterworfenen, schmachvoll in die Knie gesunkenen Frankreich erschauerten. Sie allein also hatten heldenhaft ihre Pflicht getan! Jetzt waren sie verloren inmitten des allgemeinen Schreckens, in der Totenstille des Landes. Sie galten als Rebellen; man würde sie wie wilde Tiere mit Flintenschüssen jagen. Und sie hatten von einem großen Krieg geträumt, von der Erhebung eines ganzen Volkes, von der ruhmreichen Eroberung des Rechts! Und nun, angesichts einer derartigen Auflösung, einer solchen Verlassenheit, beweinte dieses Häuflein Männer seinen erstorbenen Glauben, seinen entschwundenen Traum von Gerechtigkeit. Es gab etliche, die beschimpften ganz Frankreich wegen seiner Feigheit, warfen die Waffen fort und setzten sich an die Ränder der Straßen; sie wollten hier die Kugeln der Truppen abwarten, sagten sie, um zu zeigen, wie Republikaner sterben.
Obwohl diese Männer nichts mehr zu erwarten hatten als Verbannung oder Tod, flohen nur wenige von ihnen. Eine bewundernswürdige Einmütigkeit hielt diese Scharen zusammen. Ihr Zorn kehrte sich gegen ihre Anführer. Die waren in der Tat unfähig. Nicht wiedergutzumachende Fehler waren begangen worden, und jetzt sahen sich die Aufständischen, die man im Stich gelassen hatte, die keine Manneszucht besaßen, kaum von einigen Wachen geschützt und dem Befehl unentschlossener Männer unterstellt, den erstbesten Truppen ausgeliefert, die sich zeigen würden.
Sie verbrachten noch zwei Tage in Orchères, den Dienstag und den Mittwoch, verloren dadurch Zeit und verschlimmerten ihre Lage. Der General, der Mann mit dem Säbel, den Silvère Miette auf dem Weg nach Plassans gezeigt hatte, zögerte und brach unter der schrecklichen Verantwortung zusammen, die auf ihm lastete. Am Donnerstag sah er die Stellung in Orchères als entschieden gefährdet an. Gegen ein Uhr gab er den Befehl zum Aufbruch und führte seine kleine Schar auf die Höhen von SainteRoure, übrigens eine uneinnehmbare Stellung für einen, der sie zu verteidigen gewußt hätte. Die Häuser von Sainte Roure stehen stufenweise am Abhang eines Hügels; hinter der Stadt schließen riesige Felsblöcke den Horizont ab. Zu diesem einer Zwingburg ähnlichen Ort kann man nur von der Ebene von Nores aus aufstei gen, die sich am Fuß des Plateaus ausbreitet. Ein Vorplatz, den man in eine mit herrlichen Ulmen bepflanzte Anlage umgewandelt hat, beherrscht die Ebene. Auf diesem Vorplatz lagerten die Aufständischen. Die Geiseln hatte man in das mitten in der Anlage gelegene Gasthaus »MuleBlanche«53 gesperrt. Die Nacht war schwer und dunkel. Man sprach von Verrat. Der Mann mit dem Säbel, der die einfachsten Vorsichtsmaßnahmen versäumt hatte, hielt am frühen Morgen eine Besichtigung ab. Die einzelnen Abteilungen standen in langer Reihe mit dem Rücken zur Ebene, in dem seltsamen Durcheinander ihrer Bekleidung: braune Westen, dunkle Überröcke und von roten Gürteln zusammengehaltene blaue Kittel. Wunderlich gemischt blinkten die Waffen in der hellen Sonne: frisch gedengelte Sensen, breite Erdschaufeln, brünierte Läufe von Jagdflinten; und gerade in dem Augenblick, als der improvisierte General die Front seines kleinen Heeres abritt, stürzte ein Posten herbei, den man in einem Olivenhain vergessen hatte, und schrie, aufgeregt gestikulierend:
»Die Soldaten! Die Soldaten!«
Eine unbeschreibliche Verwirrung entstand. Zunächst hielt man es für einen blinden Alarm. Die Aufständischen vergaßen jegliche Disziplin, stürzten vor und rannten an das Ende des
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