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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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seinen Vetter, der wieder den Abhang heraufkam und abermals über den Vorplatz ging. Im Vorbeigehen hob Pascal Macquarts Flinte auf, die Silvère fortgeworfen hatte; er kannte die Waffe, denn er hatte sie über Tante Dides Kamin hängen sehen, und wollte sie vor den Händen der Sieger retten. Kaum war er in das Gasthaus »MuleBlanche« eingetreten, wohin man eine große Anzahl Verwundeter geschafft hatte, als ein Strom Aufständischer, die die Truppe wie ein Rudel wilder Tiere vor sich her trieb, den Vorplatz überflutete. Der Mann mit dem Säbel war geflohen; jetzt wurden die letzten Kontingente der Landgemeinden zu Tode gehetzt. Ein entsetzliches Gemetzel begann. Oberst Masson und der Präfekt, Herr de Blériot, befahlen, von Mitleid erfaßt, vergebens den Rückzug. Die wütend gewordenen Soldaten schossen weiter in den Menschenhaufen und nagelten die Flüchtenden mit Bajonettstichen an die Mauer. Als sie keine Feinde mehr vor sich hatten, durchlöcherten sie mit ihren Kugeln die Fassade des »MuleBlanche«. Die Fensterläden zerbarsten; ein halb offengebliebenes Fenster wurde unter lautem Geklirr von zerbrechendem Glas weggerissen. Von drinnen riefen jammernde Stimmen: »Die Gefangenen! Die Gefangenen!« Aber die Truppe hörte nicht, sie feuerte weiter. Einen Augenblick sah man den entrüsteten Kommandanten Sicardot auf der Schwelle erscheinen, sprechen und lebhaft die Arme bewegen. Neben ihm zeigte der Steuerdirektor, Herr Peirotte, seine dürre Gestalt, sein verstörtes Gesicht. Noch eine Salve krachte. Und Herr Peirotte fiel vornüber zu Boden wie ein Stück Holz.
    Silvère und Miette sahen einander an. Inmitten der Schießerei und des Brüllens der Sterbenden beugte sich der junge Bursche noch immer über die Tote, ohne auch nur den Kopf zu wenden. Er merkte nur, daß Männer um ihn herum waren, und wurde von einem Gefühl der Scham ergriffen; er zog die Falten der roten Fahne über Miette, über ihre entblößte Brust. Dann sahen sie einander wieder an.
    Doch der Kampf war zu Ende. Die Ermordung des Steuerdirektors hatte die Wut der Soldaten gekühlt. Einzelne liefen noch umher und durchsuchten alle Winkel des Vorplatzes, um auch nicht einen einzigen Aufständischen entkommen zu lassen. Ein Gendarm, der Silvère unter den Bäumen bemerkte, kam angerannt, und als er sah, daß er es mit einem halben Kind zu tun hatte, fragte er:
    »Was machst du da, Bengel?«
    Silvère, Auge in Auge mit Miette, antwortete nicht.
    »Oh, der Bandit! Er hat pulvergeschwärzte Hände!« rief der Mann, der sich gebückt hatte. »Los, steh auf, du Schuft! Du wirst dich wundern.« Und als Silvère, ein verlorenes Lächeln auf den Lippen, sich noch immer nicht rührte, sah der Mann, daß der in die Fahne gehüllte Leichnam eine Frauenleiche war.
    »Eine hübsche Dirne! Schade!« murmelte er. »Deine Geliebte, wie, Halunke?« Dann fügte er mit einem Gendarmenlachen hinzu: »Los, hoch! Jetzt, wo sie tot ist, wirst du wohl nicht mit ihr schlafen wollen.«
    Er riß Silvère heftig hoch, stellte ihn auf die Füße und führte ihn fort wie einen Hund, den man an einer Pfote hinter sich herschleift. Silvère ließ sich wortlos und gehorsam wie ein Kind fortziehen. Er wandte sich um und schaute auf Miette. Er war verzweifelt darüber, sie so allein unter den Bäumen zurücklassen zu müssen. Noch einmal sah er sie von fern, ein letztes Mal. Sie ruhte dort rein und keusch, in die rote Fahne gehüllt, den Kopf leicht zur Seite geneigt, und ihre weitoffenen Augen blickten ins Leere.

Kapitel VI
    Gegen fünf Uhr morgens traute sich Rougon endlich, das Haus seiner Mutter zu verlassen. Die Alte war auf einem Sessel eingeschlafen. Er wagte sich behutsam bis an das Ende der SaintMittreSackgasse vor. Nicht ein Laut, nicht eine Menschenseele. Er ging weiter bis zur Porte de Rome. Beide Flügel des Tores standen weit offen, und das gähnende Loch der Toröffnung ging über in das Dunkel der schlafenden Stadt. Plassans schlief wie ein Murmeltier und schien nicht zu ahnen, was für eine riesige Unvorsichtigkeit es beging, indem es so bei offenen Toren schlief. Man hätte die Stadt für ausgestorben halten können. Rougon faßte allmählich Mut und bog in die Rue de Nice ein. Von weitem hatte er ein wachsames Auge auf alle Straßenecken; er zitterte vor jeder Türnische und glaubte ständig, eine Gruppe Aufständischer zu sehen, die ihm in den Rücken fallen wollte. Doch er erreichte ohne Zwischenfall den Cours Sauvaire. Offenbar hatten sich die

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