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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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einmal mehr die Soldaten; wie Fetzen grauen Nesseltuchs zogen Rauchschwaden unter den Ulmen hin. Das Laub regnete noch immer auf die Aufständischen herab, die Truppe schoß zu hoch. Manchmal hörte der junge Bursche durch das ohrenbetäubende Krachen der Salven einen Seufzer, ein dumpfes Röcheln, und es gab in dem kleinen Haufen ein Drängen und Schieben, als wolle man dem Unglücklichen Platz machen, der sich im Fallen an die Schultern seiner Nebenmänner klammerte. Das Feuer dauerte zehn Minuten.
    Zwischen zwei Salven schrie in einem furchtbaren Ton des Grauens plötzlich ein Mann: »Rette sich, wer kann!« Man hörte Schelten, wütendes Murren: »Die Feiglinge! Oh, diese Feiglinge!« Unheilvolle Gerüchte liefen um: Der General sei geflohen, die Kavallerie säbele die in der Ebene von Nores verstreuten Plänkler nieder. Und die Schüsse hörten nicht auf; sie fielen unregelmäßig und musterten den Rauch mit jähen Feuerstreifen. Eine rauhe Stimme wiederholte, man müsse hier auf dem Fleck sterben. Doch die verstörte Stimme, die Stimme des Grauens, schrie lauter: »Rette sich, wer kann! Rette sich, wer kann!« Einige Männer flohen, warfen ihre Waffen fort, sprangen über die Toten hinweg. Die anderen schlossen die Reihen. Etwa zehn Aufständische blieben übrig. Zwei ergriffen noch die Flucht, und von den acht letzten wurden drei auf einen Schlag getötet.
    Die beiden Kinder waren, ohne zu überlegen, ohne etwas zu begreifen, stehengeblieben. Je kleiner die Schar wurde, desto höher hielt Miette die Fahne; sie hielt sie wie eine große Kerze vor sich, mit geschlossenen Fäusten. Die Fahne war von Kugeln durchlöchert. Als Silvère keine Patronen mehr in der Tasche hatte, hörte er auf zu schießen und sah stumpfsinnig auf sein Gewehr. In diesem Augenblick glitt ein Schatten über sein Gesicht, als habe ein riesiger Vogel mit einem Flügelschlag seine Stirn gestreift. Er schaute auf und sah, wie Miette die Fahne aus den Händen fiel. Beide Fäuste auf die Brust gepreßt, den Kopf zurückgeworfen, drehte sie sich mit einem furchtbaren Ausdruck des Schmerzes langsam um sich selbst. Sie stieß keinen Schrei aus; sie sank hintenüber auf das rote Tuch der Fahne.
    »Steh auf, komm schnell«, rief Silvère und streckte ihr völlig kopflos die Hand hin.
    Aber sie blieb liegen, mit weitgeöffneten Augen, ohne ein Wort zu sagen. Er begriff und warf sich auf die Knie.
    »Bist du verwundet, sag? Wo bist du verwundet?«
    Sie antwortete immer noch nicht, sie war am Ersticken, sie sah ihn aus geweiteten Augen an, von kurzen Schauern geschüttelt. Nun nahm er ihr die Hände von der Brust.
    »Hier ist es, nicht wahr, hier?«
    Und er zerriß ihr Mieder und entblößte ihre Brust. Er suchte, er sah nichts. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Dann entdeckte er unter der linken Brust ein kleines hellrotes Loch; ein einziger Blutstropfen hing an der Wunde.
    »Das wird nicht schlimm sein«, stammelte er. »Ich werde Pascal holen, der wird dir helfen. Wenn du aufstehen könntest … Kannst du nicht aufstehen?«
    Die Soldaten schossen nicht mehr; sie hatten sich nach links geworfen, auf die Abteilungen, die der Mann mit dem Säbel mit sich genommen hatte. Auf dem ganzen leeren Vorplatz war nur noch Silvère, der vor Miettes Körper auf den Knien lag. Mit dem Eigensinn der Verzweiflung hatte er sie in die Arme genommen. Er wollte sie aufrichten, aber das Kind wurde so von Schmerzen geschüttelt, daß er sie wieder hinlegte. Er flehte sie an: »Sprich mit mir, ich bitte dich! Warum sagst du mir denn nichts?«
    Sie vermochte es nicht; sie bewegte sanft und langsam die Hände, um auszudrücken, daß es nicht ihre Schuld sei. Ihre aufeinandergepreßten Lippen wurden schon schmal unter dem Finger des Todes. Das Haar aufgelöst, den Kopf in die blutigen Falten der Fahne gewühlt, lebte nichts mehr an ihr außer den Augen, ihren schwarzen Augen, die aus dem schon weißen Gesicht leuchteten. Silvère schluchzte. Der Blick dieser großen, schmerzerfüllten Augen tat ihm weh. Er las eine grenzenlose Lebenssehnsucht darin. Miette sagte ihm, daß sie allein scheide, vor der Hochzeit, daß sie von hinnen gehe, ohne seine Frau geworden zu sein; sie sagte ihm auch, daß er es so gewollt habe, daß er sie hätte lieben sollen, wie alle jungen Burschen ihre Mädchen lieben. In ihrem Todeskampf, in dem harten Ringen ihrer starken Natur gegen den Tod weinte sie über ihre Jungfräulichkeit. Silvère, der sich über sie beugte, verstand das bittere

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