Das Glück der Familie Rougon - 1
fügte Vuillet hinzu: »Die Republik bewegt sich stets nur zwischen Prostitution und Mord.« Das war bloß der erste Teil des Artikels. Am Ende seiner Ausführungen fragte der Buchhändler in einem schwungvollen Schlußabsatz, ob das Land noch länger »die Schmach dieser wilden Tiere, die weder Eigentum noch Menschenleben achten, dulden wolle«. Er appellierte an alle tapferen Bürger, indem er sagte, weitere Duldsamkeit sei eine Ermutigung der Aufständischen, die dann »die Tochter aus den Armen der Mutter, die Gattin aus den Armen des Gatten« reißen würden. Und nach einem frommen Satz, darin er erklärte, Gott wolle die Vertilgung der Bösen, schloß er mit dem Trompetenstoß: »Man versichert, daß diese Elenden abermals vor unseren Toren stehen; nun denn, möge jeder von uns ein Gewehr ergreifen und sie vernichten wie Hunde; mich wird man in der vordersten Reihe sehen, glücklich, die Erde von solchem Ungeziefer zu befreien!«
Dieser Artikel, in dem der schwerfällige Zeitungsstil der Provinz unflätige Umschreibungen aneinanderreihte, hatte Rougon in Bestürzung versetzt, und als Félicité die »Gazette« auf den Tisch legte, murmelte er:
»Ach, der Unglücksmensch! Das ist das letzte. Man wird annehmen, daß ich ihm diese Schmähschrift eingeblasen habe.«
»Aber«, meinte seine Frau nachdenklich, »hast du mir nicht heute morgen erzählt, daß er sich entschieden weigere, die Republikaner anzugreifen? Die Nachrichten hatten ihn erschreckt, und du hast behauptet, er sei leichenblaß gewesen.«
»Ja freilich! Die Sache ist mir unverständlich. Als ich in ihn drang, ging er so weit, mir vorzuwerfen, daß ich nicht sämtliche Aufständischen umgebracht habe … Er hätte seinen Artikel gestern schreiben müssen, heute liefert er uns damit ans Messer.«
Félicité kam aus dem Staunen nicht heraus. Was war denn in Vuillet gefahren? Das Bild dieses mißratenen Küsters, der mit der Flinte in der Hand von den Wällen Plassans herab auf die Feinde schoß, erschien ihr als das Närrischste, was man sich vorstellen konnte. Es mußte irgendeine entscheidende Ursache dahinterstecken, die ihr entging. Vuillet schimpfte zu unverschämt und war viel zu mutig, als daß die Aufständischen tatsächlich so nahe vor den Toren der Stadt sein konnten.
»Das ist ein böser Mensch, ich habe es immer gesagt«, fing Rougon wieder an, nachdem er den Artikel nochmals gelesen hatte. »Vielleicht wollte er uns nur etwas einbrocken. Es war wirklich töricht von mir, ihm die Leitung des Postamtes zu überlassen.«
Das war ein Strahl der Erleuchtung für Félicité. Sie stand rasch auf, wie von einer plötzlichen Eingebung erhellt, setzte eine Haube auf und warf sich ein Tuch um die Schultern.
»Wo gehst du denn hin?« fragte ihr Mann erstaunt. »Es ist schon neun Uhr durch.«
»Du, du gehst jetzt schlafen«, antwortete sie etwas scharf. »Du fühlst dich elend und mußt ausruhen. Schlafe, bis ich zurückkomme. Ich wecke dich, wenn es nötig ist, und dann wollen wir weiterreden.«
Mit ihrem leichten Schritt ging sie hinaus und lief zum Postgebäude. Unvermittelt trat sie in das Amtszimmer, wo Vuillet noch arbeitete. Bei ihrem Anblick machte er eine lebhafte Bewegung des Unwillens.
Niemals war Vuillet glücklicher gewesen. Seit er seine dünnen Finger zwischen die Postsachen stecken konnte, genoß er eine tiefe Wollust, die Wollust eines neugierigen Priesters, der sich darauf vorbereitet, die Geständnisse seiner Beichtigerinnen auszukosten. Alle hinterhältigen Indiskretionen, all das trübe Geschwätz der Sakristeien summten in seinen Ohren. Er näherte seine lange bleiche Nase den Briefen, betrachtete mit seinen Schielaugen zärtlich die Aufschriften, prüfte die Briefumschläge, wie die kleinen Abbés die Seelen der Jungfrauen durchforschen. Das waren unendliche Genüsse, prickelnde Versuchungen. Die tausenderlei Geheimnisse von Plassans lagen da vor ihm. Er betastete die Ehre der Frauen, das Vermögen der Männer, und er brauchte nur die Siegel zu lösen, um ebensoviel zu erfahren wie der Generalvikar der Kathedrale, der Vertraute der vornehmen Leute in der Stadt. Vuillet war eines jener fürchterlichen, kaltherzigen und grausamen Klatschmäuler, die alles wissen, sich alles berichten lassen und die Gerüchte nur zu dem Zweck weitererzählen, um damit den Leuten den Garaus zu machen. Darum hatte er schon oft davon geträumt, daß er den Arm bis zur Schulter in den Briefkasten steckte. Seit gestern war für ihn das
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