Das Glück der Familie Rougon - 1
Rougons, das weiß man ja, mit denen ist nicht viel los!«
Diese Beschimpfung traf Félicité mitten ins Herz. Die Undankbarkeit des Volkes kränkte sie tief, denn sie hatte schließlich selbst an die Sendung der Rougons geglaubt. Sie rief ihren Mann, denn sie wollte, daß er die Unbeständigkeit der Menge kennenlerne.
»Es ist wie mit ihrem Spiegel«, meinte der Rechtsanwalt weiter. »Was haben sie für ein Aufhebens von diesem unglückseligen zertrümmerten Spiegel gemacht! Sie wissen ja, dieser Rougon ist imstande und hat absichtlich darauf gezielt, damit die Leute an einen Kampf glauben.«
Pierre unterdrückte einen Schmerzensschrei. Man glaubte nicht einmal mehr an seinen Spiegel. Bald würde man so weit gehen zu behaupten, er habe keine Kugel an seinem Ohr vorbeipfeifen hören. Die Heldensage von den Rougons würde verlöschen und nichts übrigbleiben von ihrem Ruhm. Doch noch war er nicht am Ende seines Leidensweges. Die Leute fielen jetzt genauso unverfroren über ihn her, wie sie ihm gestern Beifall gezollt hatten. Ein ehemaliger Hutmacher, ein Greis von siebzig Jahren, der früher eine Fabrik in der Vorstadt besessen hatte, wühlte in der Vergangenheit der Rougons. Er redete unbestimmt, stockend, wie ein Mensch mit schwindendem Gedächtnis, vom Anwesen der Fouques, von Adélaïde, von ihrer Liebschaft mit einem Schmuggler. Er erzählte genug davon, um dem Klatsch neuen Auftrieb zu geben. Die Schwätzer näherten sich jetzt dem Haus; Worte wie Lumpenpack, Diebe, schamlose Intriganten drangen bis zu den Fensterläden herauf, hinter denen Pierre und Félicité vor Angst und Wut schwitzten. Nun fing man unten an, Macquart zu bedauern. Das war das Schlimmste! Gestern noch war Rougon ein Brutus, eine stoische Seele, die ihre persönlichen Gefühle dem Vaterland opferte; heute war er nur ein gemeiner, ehrgeiziger Mensch, der über die Leiche seines armen Bruders hinwegschritt und sich seiner als Stufe bediente, um zum Erfolg aufzusteigen.
»Hörst du? Hörst du?« flüsterte Pierre mit erstickter Stimme. »Oh, diese Lumpen, sie bringen uns um! Niemals werden wir uns davon erholen!«
Félicité trommelte wütend mit den Spitzen ihrer zusammengepreßten Finger auf dem Fensterladen und antwortete:
»Geh, laß sie reden. Wenn wir wieder obenauf sind, sollen sie sehen, mit wem sie es zu tun haben. Ich weiß, woher der Angriff kommt. Die Neustadt gönnt es uns nicht.«
Sie hatte richtig geraten. Die plötzliche Unbeliebtheit der Rougons war das Werk einiger Rechtsanwälte, die sich sehr darüber ärgerten, daß ein ehemaliger ungebildeter Ölhändler, dessen Haus schon vor dem Bankrott gestanden hatte, zu einer solchen Bedeutung gelangt war. Das SaintMarcViertel war seit zwei Tagen wie ausgestorben. Nur die Altstadt und die Neustadt waren noch vorhanden. Die letztere hatte das allgemeine Entsetzen dazu benutzt, den gelben Salon bei den Kaufleuten und Arbeitern anzuschwärzen. Roudier und Granoux seien vorzügliche Männer, rechtschaffene Bürger, die von diesen Rougons, diesen Intriganten, hintergangen würden. Man werde ihnen schon die Augen öffnen. Hätte statt dieses Schmerbauchs, dieses Bettlers, der keinen Sou besaß, nicht besser Herr Isidore Granoux den Amtssessel des Bürgermeisters einnehmen sollen? Das nahmen die Neider zum Ausgangspunkt, um Rougon sämtliche Handlungen einer Verwaltung vorzuwerfen, die erst seit gestern in seinen Händen lag. Er hätte den früheren Magistrat nicht beibehalten dürfen; er habe eine verhängnisvolle Dummheit begangen, indem er die Stadttore schließen ließ; seine Schuld sei es, daß sich fünf Ausschußmitglieder auf der Terrasse des Herrenhauses der Valqueyras eine Lungenentzündung geholt hatten. Und man hörte nicht auf zu schimpfen. Auch die Republikaner muckten auf. Man sprach von einem möglichen Handstreich auf das Bürgermeisteramt seitens der Vorstadtarbeiter. Die Reaktion lag in den letzten Zügen.
In diesem Zusammenbruch all seiner Hoffnungen dachte Pierre an die wenigen Stützen, auf die er bei Gelegenheit noch zählen könnte.
»Sollte Aristide heute abend nicht kommen, um Frieden zu schließen?« fragte er.
»Ja«, antwortete Félicité. »Er hatte mir einen schönen Artikel versprochen. Der ›Indépendant‹ ist nicht erschienen …«
Doch ihr Mann unterbrach sie mit den Worten:
»Schau, kommt er da nicht gerade aus der Unterpräfektur?«
Die alte Frau warf nur einen Blick hinaus.
»Er hat seine Binde wieder Angelegt!« rief sie.
Tatsächlich
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