Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
Flügel drehten sich langsam in den Angeln. Leer gähnte die finstere Höhlung des Torwegs.
    Da rief Macquart mit lauter Stimme: »Kommt, meine Freunde!«
    Das war das Signal. Er warf sich rasch zur Seite. Und während die Republikaner voranstürmten, brach aus dem Dunkel des Hofes ein Strom von Flammen, ein Hagel von Kugeln heraus, die mit Donnergetöse in den weit offenen Torweg sausten. Das Tor spie den Tod aus. Die Nationalgardisten, durch das Warten aufs höchste gereizt, hatten im Drang nach Erlösung von dem Alpdruck, der in diesem düstern Hof auf ihnen lastete, in fieberhafter Hast alle gleichzeitig abgefeuert. Einen Augenblick wurde es so hell, daß Macquart deutlich sah, wie Rougon in dem fahlroten Pulverdampf zu zielen versuchte. Er glaubte den Flintenlauf auf sich gerichtet zu sehen, erinnerte sich an Félicités Erröten, entfloh und murmelte: »Nur keine Unvorsichtigkeit! Der Spitzbube wäre imstande, mich zu töten. Er schuldet mir achthundert Francs!«
    Inzwischen stieg ein Gebrüll zum Nachthimmel empor. Die überraschten Republikaner schrien: »Verrat!« und gaben ihrerseits Feuer. Ein Nationalgardist fiel im Torgang. Aber sie selber hatten drei Tote. Sie ergriffen die Flucht, stolperten über die Leichen und schrien völlig kopflos durch die stillen Straßen: »Man mordet unsre Brüder!« Ihre verzweifelten Stimmen fanden keinen Widerhall. Die Verteidiger der Ordnung, die Zeit gehabt hatten, ihre Waffen frisch zu laden, stürzten jetzt wie die Wilden auf den leeren Platz hinaus und schickten ihre Kugeln in alle Straßenecken, überall dorthin, wo das Dunkel eines Türeingangs, der Schatten einer Laterne, ein vorspringender Eckstein sie Aufständische vermuten ließ. So schossen sie noch zehn Minuten lang ins Leere.
    Dieser hinterlistige Überfall fuhr wie ein Blitzstrahl in die schlafende Stadt. Die Bewohner der benachbarten Straßen saßen, vom Lärm der höllischen Schießerei geweckt, zähneklappernd vor Angst in ihren Betten. Für nichts in der Welt hätten sie die Nase aus dem Fenster gesteckt. Und durch die von den Flintenschüssen zerrissene Luft läutete langsam eine Glocke der Kathedrale Sturm, in einem so unregelmäßigen, so eigenartigen Rhythmus, daß es klang wie das Hämmern auf einem Amboß, wie das Dröhnen eines riesigen Kessels, auf den die Faust eines zornigen Kindes einschlägt. Diese heulende Glocke, deren Ton die Bürger nicht wiedererkannten, erschreckte sie noch mehr als das Knallen der Gewehrschüsse, und manche glaubten das Rasseln einer endlosen Reihe von Kanonen zu hören, die über das Pflaster rollten. Sie legten sich wieder nieder, krochen unter ihre Decken, als setzten sie sich einer Gefahr aus, wenn sie sitzen geblieben wären; hinten in ihren Alkoven, in den verschlossenen Zimmern, die Bettdecken bis zum Kinn hochgezogen, mit stockendem Atem, machten sie sich ganz klein, während die Zipfel ihrer Seidentücher ihnen in die Augen fielen und ihre Frauen neben ihnen den Kopf in die Kissen vergruben und fast vergingen.
    Die Nationalgardisten auf den Wällen hatten ebenfalls die Schüsse gehört. In der Annahme, die Aufständischen seien durch irgendeinen unterirdischen Gang hineingelangt, liefen sie in wilder Unordnung in Gruppen von fünf oder sechs Mann in die Stadt und störten die Stille der Straßen mit dem Lärm ihrer raschen aufgeregten Schritte. Roudier kam als einer der ersten beim Rathaus an. Doch Rougon schickte sie auf ihre Posten zurück und sagte ihnen mit strenger Miene, man dürfe die Tore einer Stadt nicht so ungeschützt lassen. Bestürzt durch diesen Vorwurf – denn sie hatten in ihrer sinnlosen Angst tatsächlich sämtliche Tore ohne einen einzigen Verteidiger gelassen –, rasten sie mit noch entsetzlicherem Getöse wieder durch die Straßen zurück. Eine volle Stunde lang konnte Plassans glauben, eine verrückt gewordene Armee durchzöge die Stadt nach allen Richtungen. Die Gewehrsalven, das Sturmläuten, das Hinundherrennen der Nationalgardisten, die ihre Waffen wie Knüttel über das Pflaster schleiften, ihre aufgeregten Zurufe im Dunkel vereinigten sich zu dem ohrenbetäubenden Lärm einer im Sturm genommenen und der Plünderung preisgegebenen Stadt. Das gab den unglücklichen Einwohnern, die allesamt glaubten, die Aufständischen hielten ihren Einzug, den Rest. Hatten sie nicht vorausgesagt, daß dies ihre letzte Nacht sei und daß Plassans noch vor Tagesanbruch in den Erdboden versinken oder sich in Rauch auflösen werde? Toll vor

Weitere Kostenlose Bücher