Das Glück der Familie Rougon - 1
erfunden!«
»Woher soll man in einem Loch wie Plassans etwas wissen!« rief er verdrießlich aus. »Ich werde rein blödsinnig, das kann ich dir versichern. Keinerlei Nachrichten, und man klappert mit den Zähnen vor Angst. Das kommt davon, wenn man hinter diesen verflixten Wällen eingesperrt ist … Ach, hätte ich doch mit Eugène nach Paris gehen können!« Da er sah, daß Félicité noch immer lachte, fuhr er erbittert fort: »Sie waren nicht nett zu mir, Mutter. Ich weiß doch so allerlei … Mein Bruder hat Sie über alle Vorgänge auf dem laufenden gehalten, und Sie haben mir niemals auch nur den geringsten nützlichen Wink gegeben.«
»So, das weißt du?« meinte Félicité, ernst und mißtrauisch geworden. »Nun, dann bist du also weniger dumm, als ich dachte. Machst du vielleicht auch fremde Briefe auf wie jemand aus meiner Bekanntschaft?«
»Nein, aber ich horche an den Türen«, antwortete Aristide mit großer Dreistigkeit.
Diese Offenheit mißfiel der alten Frau nicht. Sie begann wieder zu lächeln und sagte freundlicher:
»Wie kommt es dann aber, du Dummkopf, daß du dich nicht eher auf unsere Seite gestellt hast?«
»Ja, das ist˜s eben«, entgegnete der junge Mann verlegen. »Ich hatte kein rechtes Vertrauen zu euch. Ihr habt solche blöden Leute bei euch empfangen: meinen Schwiegervater, Granoux und all die andern … Und außerdem wollte ich mich nicht zu weit einlassen …« Er stockte und fuhr dann mit unsicherer Stimme fort: »Sind Sie wenigstens heute vom Gelingen des Staatsstreichs überzeugt?«
»Ich?« rief Félicité, die der Zweifel ihres Sohnes kränkte. »Aber ich bin von, gar nichts überzeugt.«
»Trotzdem haben Sie mir ausrichten lassen, ich solle meine Armbinde ablegen?«
»Ja, weil alle diese Herren sich über dich lustig machen.«
Aristide blieb mit verlorenem Blick wie angewurzelt stehen und schien eine der Ranken der orangegelben Tapete zu betrachten.
Seine Mutter wurde plötzlich ungeduldig, als sie ihn so zaudernd sah.
»Wirklich«, sprach sie, »ich muß auf meine erste Meinung zurückkommen: Du hast das Pulver nicht erfunden. Und dir hätte man die Briefe von Eugène zu lesen geben sollen! Du Unglücksmensch, du hättest mit deiner ewigen Unschlüssigkeit doch alles verdorben. Da stehst du und zauderst …«
»Ja, ich zaudere«, unterbrach er sie und warf einen klaren und kalten Blick auf die Mutter. »Je nun, Sie kennen mich nicht! Ich würde die Stadt in Brand stecken, wenn ich Lust bekäme, mir die Füße zu wärmen. Aber begreifen Sie doch endlich, daß ich keinen falschen Weg einschlagen möchte! Ich habe es satt, trocken Brot zu essen, und ich versteh es schon, mir das Glück zu ermogeln, aber ich will auf eine sichere Karte setzen.«
Er hatte diese Worte mit so viel Begehrlichkeit ausgesprochen, daß seine Mutter in dieser brennenden Gier nach Erfolg die Stimme ihres Blutes wiedererkannte. Sie flüsterte:
»Dein Vater hat viel Mut.«
»Ja, ich habe ihn gesehen«, erwiderte er spöttisch. »Er hat einen guten Kopf. Er hat mich an Leonidas63 in den Thermopylen erinnert … Hast du ihn dazu gemacht, Mutter?« Und mit einer entschlossenen Handbewegung rief er vergnügt: »Pech! Ich bin Bonapartist! – Papa ist nicht der Mann, der sich umbringen läßt, wenn ihm das nicht anständig etwas einbringt.«
»Und damit hast du recht«, bestätigte seine Mutter. »Ich kann dir das jetzt nicht erklären, aber morgen wirst du schon sehen.«
Er drang nicht in sie, sondern schwor, ihr bald Ehre zu machen, und ging fort, während ihm Félicité, die ihre alte Vorliebe wieder erwachen fühlte, vom Fenster aus nachsah und sich dabei sagte, daß er doch ein wahrer Teufelskerl sei und sie es niemals hätte übers Herz bringen können, ihn gehen zu lassen, ohne ihn endlich auf die richtige Bahn zu bringen.
Zum drittenmal sank die Nacht, eine Nacht voller Bangen, auf Plassans herab. Die Stadt litt Todesqualen und lag in den letzten Zügen. Die Bürger suchten eilig ihre Häuser auf, die Türen wurden mit einem lauten Gerassel von Bolzen und Eisenstangen verrammelt. Das allgemeine Gefühl schien dahin zu gehen, daß Plassans den andern Morgen nicht erleben, daß es entweder in die Erde versunken oder in die Lüfte zerstoben sein werde. Als Rougon zum Abendessen nach Hause kam, fand er die Straßen vollkommen verlassen. Diese Einsamkeit machte ihn traurig und schwermütig. So überkam ihn am Ende der Mahlzeit eine Schwächeanwandlung, und er fragte seine Frau, ob es
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