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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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hatten, unter ihren Bettüchern zu zittern, wagten sie sich hervor. Erst kamen zehn bis fünfzehn, dann, als sich das Gerücht verbreitete, die Aufständischen hätten die Flucht ergriffen und in allen Rinnsteinen Tote zurückgelassen, kam ganz Plassans auf die Beine und lief auf den Rathausplatz. Während des ganzen Vormittags umkreisten die Neugierigen die vier Leichen. Diese waren entsetzlich verstümmelt, besonders eine, die drei Kugeln in den Kopf bekommen hatte; der aufgeplatzte Schädel ließ das Gehirn sehen. Aber am fürchterlichsten von den vieren sah der Nationalgardist aus, der unter dem Torbogen gefallen war; er hatte eine ganze Ladung von dem Rebhuhnschrot, dessen sich die Republikaner in Ermangelung von Kugeln bedient hatten, mitten ins Gesicht bekommen: es war durchlöchert wie ein Sieb und tropfte von Blut. Mit der Sucht aller Feiglinge nach dem Grauenhaften weidete sich die Menge lange an diesem entsetzlichen Anblick. Man erkannte den Nationalgardisten: es war der Fleischermeister Dubruel, den Roudier Montag früh beschuldigt hatte, er habe in sträflichem Eifer geschossen. Zwei von den drei anderen Toten waren Arbeiter aus der Hutfabrik; den dritten erkannte niemand. Und vor den roten Pfützen auf dem Pflaster standen mit aufgerissenem Mund schaudernde Gruppen und blickten sich mißtrauisch um, als passe diese summarische Justiz, die in der Finsternis die Ordnung mittels Gewehrschüssen wiederhergestellt hatte, auf sie auf, belauere ihre Mienen und Worte, bereit, auch sie zu erschießen, wenn sie nicht mit Begeisterung die Hand küßten, die sie soeben vor der Herrschaft des Pöbels gerettet hatte.
    Das Entsetzen der Nacht vergrößerte noch den schrecklichen Eindruck, den am Morgen der Anblick der vier Leichen hervorrief. Niemals ist die wahre Geschichte dieser Schießerei bekannt geworden. Das Gewehrgeknatter der Kämpfenden, Granoux˜ Hammerschläge, das Hinundherrennen der Nationalgardisten auf den Straßen hatten die Ohren der Leute mit einem so furchterregenden Lärm erfüllt, daß die meisten noch immer von einer riesigen Schlacht gegen eine Unzahl von Feinden träumten. Wenn die Sieger, die aus ihrer prahlerischen Natur heraus die Zahl ihrer Feinde vergrößerten, von ungefähr fünfhundert Mann redeten, wurde heftig widersprochen; einige der Spießbürger behaupteten, am Fenster gestanden und länger als eine Stunde dichte Scharen von Fliehenden vorüberziehen gesehen zu haben. Alle hatten übrigens die Banditen unter ihren Fenstern vorbeilaufen hören. Niemals hatten fünfhundert Mann eine Stadt so jäh aus dem Schlaf reißen können. Es war eine Armee, eine ganze Armee, die die tapfere Bürgerwehr von Plassans vom Erdboden hatte verschwinden lassen. Dieses von Rougon geprägte Wort »Sie sind vom Erdboden verschwunden« schien ausgezeichnet zuzutreffen, denn die Posten, die mit der Verteidigung der Wälle betraut waren, schworen hoch und heilig, nicht ein Mann habe die Stadt betreten oder verlassen, was der Waffentat etwas Geheimnisvolles verlieh, eine Vorstellung, als seien gehörnte Teufel in den Flammen versunken, wodurch sich die Phantasie vollends verwirrte. Freilich hüteten sich die Nationalgardisten, von ihrem rasenden Lauf durch die Stadt zu erzählen. Daher begnügten sich die Vernünftigsten mit der Annahme, daß eine Schar Aufständischer durch eine Bresche, durch irgendein Loch eingedrungen sei. Später verbreiteten sich Gerüchte von Verrat, man sprach von einem Hinterhalt. Sicherlich konnten die Leute, die von Macquart zur Schlachtbank geführt worden waren, die grausame Wahrheit nicht für sich behalten; aber einstweilen lag alles noch so sehr im Bann des Schreckens, hatte der Anblick des Blutes der Reaktion eine solche Menge von Hasenfüßen zugeführt, daß man diese Gerüchte der Wut der besiegten Republikaner zuschrieb. Wiederum behauptete man, Macquart sei Rougons Gefangener und dieser halte ihn in einem feuchten Loch verborgen, wo er ihn langsam Hungers sterben lasse. Dieses schreckliche Märchen hatte zur Folge, daß man vor Rougon den Hut bis zur Erde zog.
    So geschah es, daß dieser komische, dickbäuchige, weichliche und blasse Spießbürger in einer einzigen Nacht zu einem gewaltigen Herrn wurde, über den niemand mehr zu lachen wagte. Er war mit einem Fuß in Menschenblut getreten.
    Das Volk der Altstadt verstummte vor Schreck angesichts der Toten. Aber als gegen zehn Uhr die vornehmen Leute der Neustadt erschienen, erfüllten den Platz geflüsterte

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