Das Glück der Familie Rougon - 1
Unterhaltungen und unterdrückte Ausrufe. Man sprach von dem anderen Angriff, von jener Einnahme des Rathauses, bei der lediglich ein Spiegel beschädigt worden war, und diesmal witzelte man nicht mehr über Rougon; man nannte ihn mit banger Hochachtung: er war wirklich ein Held, ein Retter. Die Leichen starrten mit weit offenen Augen auf all diese Herren, die Rechtsanwälte und Rentiers, die schaudernd murmelten, der Bürgerkrieg bringe doch recht traurige Unvermeidlichkeiten mit sich. Der Notar, der Anführer jener Abordnung, die am Tage zuvor in die Bürgermeisterei entsandt worden war, ging von Gruppe zu Gruppe und erinnerte an das »Ich bin bereit!« des tatkräftigen Mannes, dem man das Heil der Stadt verdankte. Alles warf sich vor ihm in den Staub. Diejenigen, die am grausamsten über die Einundvierzig gespottet hatten, namentlich die, welche die Rougons »Intriganten« und »Feiglinge« und »bloße Luftschützen« genannt hatten, sprachen als erste davon, daß »dem großen Bürger, auf den Plassans ewig stolz sein werde«, ein Lorbeerkranz gebühre. Denn auf dem Straßenpflaster trockneten die Blutlachen, und die Wunden der Toten bezeugten, zu welcher Verwegenheit die Partei der Unordnung, der Plünderung und des Mordes gelangt war und welcher eisernen Hand es bedurft hatte, um den Aufstand zu unterdrücken.
Auch Granoux nahm inmitten der Volksmenge Glückwünsche und Händedrücke entgegen. Jeder kannte die Geschichte vom Hammer. Nur behauptete Granoux – mit einer unschuldigen Lüge, derer er sich bald selber nicht mehr bewußt war –, er habe als erster die Aufständischen gesehen und sogleich auf die Glocke geschlagen, um Alarm zu geben; ohne ihn wären die Nationalgardisten niedergemetzelt worden. Das verdoppelte seine Wichtigkeit. Seine Heldentat galt als wunderbar. Es hieß von ihm nur noch: »Herr Isidore, Sie wissen doch? Der Herr, der mit einem Hammer die Sturmglocke geläutet hat!« Obwohl dieser Satz etwas lang war, hätte ihn Granoux gern als Adelstitel angenommen, und fortan konnte man das Wort »Hammer« nie in seiner Gegenwart aussprechen, ohne daß er es für eine zarte Schmeichelei hielt.
Als man die Leichen fortschaffte, kam Aristide, um sie zu beschnüffeln. Er besah sie von allen Seiten, schlürfte die Luft, betrachtete forschend die Gesichter. Seine Miene war unbewegt, sein Auge klar. Mit seiner gestern noch verbundenen, heute freien Hand lüftete er den Kittel eines Toten, um die Wunde besser zu sehen. Diese Untersuchung schien ihn zu überzeugen, ihn von einem Zweifel zu befreien. Er preßte die Lippen aufeinander, blieb einen Augenblick wortlos stehen und eilte dann davon, um die Herausgabe des »Indépendant« zu beschleunigen, in dem ein langer Artikel von ihm erscheinen sollte. Als er an den Häusern entlangging, erinnerte er sich an den Ausspruch seiner Mutter: »Morgen wirst du sehen!« Er hatte gesehen. Das war wirklich ein tolles Ding; es entsetzte ihn sogar ein wenig.
Rougon jedoch wurde seines Sieges nicht recht froh. Wenn er allein in Herrn Garçonnets Arbeitszimmer weilte und den dumpfen Lärm der Menge hörte, hinderte ihn ein merkwürdiges Gefühl daran, sich auf dem Balkon zu zeigen. Das Blut, in das er getreten war, machte ihm die Beine steif. Er fragte sich, was er bis zum Abend tun solle. Sein armer, leerer Kopf, noch verwirrt durch die Ereignisse der Nacht, suchte verzweifelt nach einer Beschäftigung, nach einer Anordnung, die zu treffen, einer Maßnahme, die zu ergreifen wäre und die ihn zerstreuen könnte. Aber er wußte nicht mehr weiter. Wohin führte ihn Félicité nur? War es jetzt getan, oder mußte man noch mehr Leute umbringen? Die Angst packte ihn von neuem, schreckliche Zweifel kamen ihm; er sah bereits den Befestigungsgürtel auf allen Seiten von der rächenden Armee der Republikaner durchbrochen, als ein lauter Schrei: »Die Aufständischen! Die Aufständischen!« unter den Fenstern des Bürgermeisteramtes ertönte. Er sprang mit einem Ruck auf, hob den Vorhang und sah die Menge wie toll über den Platz rennen. Bei diesem Blitzschlag sah er sich in weniger als einer Sekunde ruiniert, ausgeplündert, ermordet. Er verfluchte seine Frau; er verfluchte die ganze Stadt. Und als er einen scheelen Blick hinter sich warf, um einen Ausweg zu suchen, hörte er, daß die Menge in Beifallsgetöse ausbrach, Freudenschreie ausstieß und daß die Scheiben von ausgelassener Fröhlichkeit klirrten. Er trat wieder ans Fenster: die Frauen schwenkten ihre
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