Das Glück der Familie Rougon - 1
haben, erfüllten ihn mit der Befriedigung schlechter Menschen, die das Böse ganz selbstverständlich wieder fröhlich und spottlustig macht.
Tante Dide hatte nur den Namen »Silvère« gehört.
»Hast du ihn gesehen?« fragte sie und tat endlich den Mund auf.
»Wen? Silvère?« antwortete Antoine. »Er ist mit einem großen roten Mädchen am Arm unter den Aufständischen herumspaziert. Wenn ihn eine blaue Bohne erwischt, geschieht ihm ganz recht.«
Die Greisin sah ihn starr an und fragte dann nur ernst:
»Warum?«
»Nun, man ist eben nicht so dumm wie er«, gab er verlegen zurück. »Wer trägt denn seine Haut um einer Idee willen zu Markte? Ich habe mir mein Leben anders eingerichtet. Ich bin kein Kind mehr.«
Aber Tante Dide hörte nicht mehr zu. Sie murmelte:
»Er hatte schon Blut an den Händen. Man wird ihn mir umbringen wie den andern; seine Onkel werden die Gendarmen auf ihn hetzen.«
»Was brummen Sie denn da?« fragte der Sohn, der eben das Hühnergerippe abnagte. »Sie wissen, man muß offen mit mir reden, wenn man mir etwas vorzuwerfen hat. Wenn ich manchmal mit dem Jungen von der Republik geredet habe, so geschah es, um ihn auf vernünftigere Gedanken zu bringen. Er war ja übergeschnappt. Ich liebe die Freiheit, aber sie darf nicht in Zügellosigkeit ausarten … Und was Rougon angeht, so hat er meine volle Hochachtung. Der Kerl hat Verstand im Kopf und Mut.«
»Er hatte doch das Gewehr, nicht wahr?« unterbrach ihn Tante Dide, deren verworrener Geist Silvère weit weg auf der Landstraße zu folgen schien.
»Das Gewehr? Ach ja, die Flinte von Macquart«, entgegnete Antoine, nachdem er einen Blick auf den Kaminsims geworfen hatte, über dem die Waffe gewöhnlich hing. »Ich glaube sie in seinen Händen gesehen zu haben. Ein nettes Instrument, um damit mit einem Mädchen am Arm durch die Felder zu ziehen! Was für ein Schafskopf!« Und er glaubte ein paar saftige Späße machen zu müssen.
Tante Dide hatte wieder angefangen, im Zimmer umherzugehen. Sie sprach kein Wort mehr.
Gegen Abend ging Antoine fort, nachdem er einen Kittel angezogen und sich eine weite Mütze, die ihm seine Mutter kaufen mußte, bis auf die Augen herabgezogen hatte. Er gelangte ebenso in die Stadt, wie er herausgekommen war, indem er den Nationalgardisten, die die Porte de Rome bewachten, etwas vorschwindelte. Dann erreichte er die Altstadt, wo er geheimnisvoll von Tür zu Tür schlich. Alle radikalen Republikaner, alle Gesinnungsgenossen, die sich nicht dem Zug der Aufständischen angeschlossen hatten, versammelten sich gegen neun Uhr in einer düsteren Schenke, die Macquart ihnen als Treffpunkt bezeichnet hatte. Als etwa fünfzig Mann dort beisammen waren, hielt er ihnen eine Rede, in der er ihnen von einer persönlichen Rache sprach, die er befriedigen wolle, von einem Sieg, der zu erringen sei, von dem schmählichen Joch, das man abschütteln müsse, und schloß damit, daß er sich anheischig machte, ihnen binnen zehn Minuten das Rathaus auszuliefern. Er komme gerade erst von dort, es sei völlig leer; die rote Fahne werde noch heute nacht auf dem Gebäude flattern, wenn sie es nur wollten. Die Arbeiter berieten sich untereinander: zur Stunde lag die Reaktion in den letzten Zügen, die Aufständischen waren dicht vor den Toren, es wäre ehrenvoll, nicht erst auf sie zu warten, um die Macht wieder an sich zu reißen; dann könnten sie sie als Brüder empfangen mit weit offenen Toren und beflaggten Straßen und Plätzen. Überdies hegte niemand Mißtrauen gegen Macquart; sein Haß gegen die Rougons, die persönliche Rache, von der er sprach, bürgten für seine Aufrichtigkeit. Es wurde vereinbart, daß alle, die Jäger waren und eine Flinte in der Wohnung hatten, diese holen und daß sich die ganze Schar um Mitternacht auf dem Rathausplatz einfinden solle. Eine Kleinigkeit hätte sie fast aufgehalten: sie besaßen keine Kugeln; aber sie beschlossen, ihre Waffen mit Rebhuhnschrot zu laden, was eigentlich sogar unnötig sei, da sie ja auf keinen Widerstand stoßen würden.
Noch einmal sah Plassans im stillen Mondschein seiner Straßen bewaffnete Männer vorüberziehen, die an den Häusern entlangschlichen. Als die Schar vor dem Rathaus versammelt war, ging Macquart, wenn auch wachsamen Auges, keck voran. Er klopfte, und als der Pförtner, der genau wußte, was er zu tun hatte, nach Macquarts Begehr fragte, drohte dieser ihm so fürchterlich, daß der Mann, den Erschreckten spielend, hastig das Tor öffnete. Die beiden
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