Das Glück der Familie Rougon - 1
Miene in der Stadt umherstreichen; er trank nicht mehr sein Täßchen Kaffee im Klub. Ohne selbst eine Karte anzurühren, sah er fieberhaft zu, wie andere spielten. Durch das Elend wurde er noch schlechter als vorher. Lange blieb er standhaft und weigerte sich hartnäckig, zu arbeiten. Im Jahre 1840 bekam er einen Sohn, den kleinen Maxime, den seine Großmutter Félicité glücklicherweise aufs Gymnasium schickte und für den sie heimlich die Pension bezahlte. So hatte Aristide einen Mund weniger zu stopfen, aber die arme Angèle war am Verhungern; der Mann mußte sich endlich eine Stellung suchen. Es gelang ihm, bei der Unterpräfektur anzukommen. Dort blieb er an die zehn Jahre und brachte es nur zu einem Jahresgehalt von achtzehnhundert Francs. Seitdem lebte er, gehässig und Galle aufspeichernd, in ständiger Gier nach den Genüssen, die ihm versagt waren. Seine untergeordnete Stellung empörte ihn; die elenden hundertfünfzig Francs, die man ihm in die Hand drückte, erschienen ihm wie eine Ironie des Schicksals. Noch nie wurde ein Mann von einem derartigen Durst nach leiblicher Befriedigung verzehrt. Félicité, der er sein Leid klagte, sah ihn nicht ungern so darben; sie glaubte, die Armut werde ihn aus seiner Trägheit aufpeitschen. Die Ohren gespitzt, immer auf der Lauer, begann er Umschau zu halten wie ein Dieb, der einen guten Fang tun möchte. Als zu Beginn des Jahres 1848 sein Bruder nach Paris ging, dachte er einen Augenblick daran, ihn zu begleiten. Aber Eugène war Junggeselle; er, Aristide, konnte seine Frau nicht so weit weg mit sich nehmen, ohne eine beträchtliche Summe in der Tasche zu haben. So wartete er ab, ahnte die kommende Katastrophe und war bereit, das erstbeste Opfer zu erwürgen.
Der zweite Sohn der Rougons, Pascal, der zwischen Eugène und Aristide geboren war, schien gar nicht zu der Familie zu gehören. Er war einer jener häufigen Fälle, welche die Gesetze der Vererbung Lügen strafen. Die Natur läßt oft inmitten einer Art ein Wesen entstehen, dessen sämtliche Elemente sie ihrer Schöpferkraft entnimmt. Nichts in Pascal, weder im Geistigen noch im Körperlichen, erinnerte an die Rougons. Groß von Wuchs, mit sanften und ernsten Zügen, war er von einer Redlichkeit des Denkens, einem Lerneifer, einem Bedürfnis nach Bescheidenheit, die zu dem fieberhaften Ehrgeiz und den wenig gewissenhaften Umtrieben seiner Familie in merkwürdigem Gegensatz standen. Nachdem er in Paris seine medizinischen Studien mit ausgezeichnetem Erfolg abgeschlossen hatte, war er, trotz der Anerbieten seiner Professoren, aus Neigung nach Plassans zurückgekehrt. Er schätzte das ruhige Leben in der Provinz und war der Meinung, für einen Gelehrten sei dieses Leben dem Pariser Getöse vorzuziehen. Selbst in Plassans bemühte er sich keineswegs, seine Praxis zu vergrößern. Sehr genügsam, da er das Geld gründlich verachtete, wußte er sich mit den wenigen Patienten zu begnügen, die ihm der bloße Zufall zuschickte. Sein ganzer Luxus bestand in einem kleinen hellen Haus in der Neustadt, wo er sich klösterlich abschloß und sich mit Liebe der Naturwissenschaft widmete. Vor allem interessierte er sich leidenschaftlich für Physiologie. Es war in der Stadt bekann, daß er dem Totengräber des Spitals des öfteren Leichen abkaufte, was ihm den Abscheu der zartfühlenden Damen und mancher ängstlicher Bürger eintrug. Glücklicherweise ging man nicht so weit, ihn für einen Zauberer zu halten, doch seine Praxis schrumpfte noch mehr zusammen; man sah in ihm einen Sonderling, dem die Leute der guten Gesellschaft nicht die Spitze des kleinen Fingers anvertrauen durften, ohne sich etwas zu vergeben. Eines Tages hörte man die Bürgermeistersfrau erklären: »Ich möchte lieber sterben, als mich von diesem Herrn behandeln zu lassen. Er riecht ja nach Tod!«
Von da ab war Pascal gerichtet. Er selber schien sich über die dumpfe Angst, die er einflößte, zu freuen. Je weniger Patienten er hatte, desto mehr konnte er sich seiner geliebten Wissenschaft widmen. Da er für seine Besuche ein sehr mäßiges Entgelt verlangte, blieben ihm die kleinen Leute treu. Er verdiente gerade seinen Lebensunterhalt und lebte zufrieden, tausend Meilen entfernt von den Leuten des Ortes, in der reinen Freude an seinen Untersuchungen und Entdeckungen. Von Zeit zu Zeit sandte er eine Denkschrift an die Akademie der Wissenschaften in Paris. Plassans wußte nichts davon, daß dieser Sonderling, dieser Herr, der nach Tod roch, in der
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