Das Glück der Familie Rougon - 1
besuchte die Schule mit großem Fleiß und zerbrach sich dort, schwer von Begriff, wie er war, den Kopf, um ihm ein wenig Rechenkunst und Rechtschreibung einzutrichtern. Dann ging er in die Lehre und gab sich dort die gleiche Mühe, mit einer Beharrlichkeit, die um so anerkennenswerter war, als er einen Tag brauchte, um sich das anzueignen, was andere in einer Stunde lernten.
Solange die armen Kinder dem Haushalt zur Last fielen, murrte Antoine ständig. Sie waren unnütze Esser, die ihm seinen Anteil kürzten. Wie sein Bruder hatte er geschworen, keine Kinder mehr zu bekommen, diese Vielfraße, die ihre Eltern an den Bettelstab bringen. Man mußte ihn hören, wie er jammerte, seit sie bei Tisch zu fünft waren und die Mutter die besten Stücke Jean, Lisa und Gervaise zuteilte.
»So ist˜s recht«, schimpfte er, »stopfe sie nur tüchtig, damit sie platzen!«
Jedes Kleidungsstück, jedes Paar Schuhe, das Fine ihnen anschaffte, verdarb ihm für mehrere Tage die Laune. Ach, hätte er das gewußt, nie würde er sich diese Brut zugelegt haben, die ihn zwang, nur noch für vier Sous Tabak am Tag zu rauchen, und die daran schuld war, daß es zu Mittag gar zu oft nur ein Kartoffelgericht gab, ein Essen, das er aus tiefster Seele verabscheute.
Später, als ihm Jean und Gervaise die ersten Zwanzigsousstücke nach Hause brachten, fand er, daß Kinder auch ihr Gutes hätten. Lisa war schon nicht mehr da. Er ließ sich ohne die geringsten Gewissensbisse von den beiden anderen, die daheim blieben, ernähren, wie früher bereits von der Mutter. Seinerseits war das sehr genau berechnet. Kaum achtjährig, ging die kleine Gervaise zu einem benachbarten Kaufmann, um dort Mandeln zu knacken; sie verdiente dabei zehn Sous am Tag, die der Vater stolz in die Tasche steckte, ohne daß selbst Fine zu fragen gewagt hätte, wo das Geld hinging. Dann trat das junge Mädchen bei einer Wäscherin in die Lehre, und als sie ausgelernt hatte und zwei Francs am Tag bekam, verirrten sich diese beiden Francs auf die gleiche Weise in die Hände Macquarts. Auch Jean, der das Tischlerhandwerk erlernt hatte, wurde vom Vater am Zahltag ausgeplündert, wenn es Macquart gelang, ihn unterwegs zu fassen, ehe er das Geld seiner Mutter geben konnte. Wenn dieses Geld ihm entging, was zuweilen vorkam, war er schrecklich verstimmt. Während einer ganzen Woche sah er seine Frau und Kinder wütend an und suchte wegen Nichtigkeiten Händel mit ihnen, besaß aber noch Schamgefühl genug, die Ursache seines Zorns für sich zu behalten. Am nächsten Zahltag legte er sich auf die Lauer, und sobald es ihm geglückt war, den Kleinen ihren Verdienst abzulisten, verschwand er für ganze Tage.
Gervaise, die unter Schlägen, zusammen mit den Straßenjungen der Nachbarschaft, aufgewachsen war, wurde mit vierzehn Jahren schwanger. Der Vater des Kindes zählte noch nicht achtzehn Jahre. Er war Arbeiter in einer Gerberei und hieß Lantier. Macquart geriet außer sich. Als er dann erfuhr, daß Lantiers Mutter, eine ordentliche Frau, das Kind zu sich nehmen wollte, beruhigte er sich. Aber Gervaise behielt er; sie verdiente bereis fünfundzwanzig Sous, und er vermied es, vom Heiraten zu reden. Vier Jahre später bekam sie einen zweiten Jungen, den sich Lantiers Mutter ebenfalls erbat. Diesmal sah Macquart vollkommen darüber hinweg. Und als ihm Fine schüchtern sagte, es sei doch ratsam, Schritte bei dem Gerber zu unternehmen, um die Sache in Ordnung zu bringen, die Leute redeten ja schon darüber, erklärte er rundheraus, daß seine Tochter zu Hause bleiben und er sie ihrem Verführer erst später geben werde, wenn dieser ihrer würdig sei und genug habe, Möbel zu kaufen.
Dieser Zeitabschnitt war der beste für Antoine Macquart. Er kleidete sich wie ein Bürger mit Überröcken und Hosen aus feinem Tuch. Er ging sorgfältig rasiert, setzte Fett an und war nicht mehr der ausgemergelte, zerlumpte Strauchdieb, der in den Schenken herumlungerte. Jetzt besuchte er die Cafés, las die Zeitungen, ging auf dem Cours Sauvaire spazieren. Er spielte den feinen Herrn, solange er Geld in der Tasche hatte. Während der knappen Tage blieb er daheim, wütend darüber, daß er in seiner elenden Behausung sitzen und auf sein Täßchen Kaffee verzichten mußte. Er gab dann der ganzen Menschheit die Schuld an seiner Armut, machte sich so krank vor Zorn und Neid, daß ihm Fine aus Mitleid das letzte Silberstück des Haushalts gab, damit er den Abend im Café zubringen konnte. Der liebe Mann war
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