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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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helfen wisse. Fine antwortete ihm sanft wie ein Lamm – mit jener dünnen hellen Stimme, die so merkwürdig wirkte, wenn sie aus diesem mächtigen Körper kam –, sie sei eben nicht mehr zwanzig Jahre und es werde immer schwerer, Geld zu verdienen. Um sich zu trösten, kaufte sie sich dann einen Liter Anislikör, den sie des Abends gläschenweise mit ihrer Tochter austrank, während Antoine wieder ins Café ging. Das war ihre einzige Ausschweifung. Jean ging zu Bett. Die beiden Frauen blieben am Tisch sitzen, die Ohren gespitzt, um Flasche und Gläschen beim geringsten Geräusch verschwinden zu lassen. Wenn sich Macquart verspätete, kam es vor, daß sie sich auf diese Weise in kleinen Schlucken betranken, ohne es zu merken. Blöde sahen Mutter und Tochter einander mit verlorenem Lächeln an und begannen zu lallen. Hellrote Flecken stiegen Gervaise in die Wangen; ihr zartes Puppengesichtchen war wie in törichte Glückseligkeit getaucht, und nichts war herzzerreißender als der Anblick dieses schwächlichen, blassen, im Alkoholrausch glühenden Kindes mit dem irren Lächeln der Trunkenen auf den feuchten Lippen. Fine sank immer schwerfälliger in ihrem Sessel zusammen. Manchmal vergaßen die beiden, auf der Hut zu sein, oder besaßen nicht mehr genügend Kraft, die Flasche und die Gläser beiseite zu bringen, wenn sie Antoines Schritte auf der Treppe hörten. An solchen Tagen schlug man einander bei den Macquarts halbtot. Jean mußte aufstehen, um Vater und Mutter zu trennen und seine Schwester ins Bett zu bringen, die sonst auf dem Fliesenfußboden geschlafen hätte.
    Jede Partei hat ihre komischen und ihre schlechten Kerle. Antoine Macquart, von Neid und Haß verzehrt, von Rachegedanken gegen die gesamte menschliche Gesellschaft erfüllt, begrüßte die Republik wie eine glückliche Ära, in der es ihm erlaubt sein würde, seine Taschen aus dem Geldkasten des Nachbarn zu füllen und sogar den Nachbarn zu erwürgen, wenn dieser damit nicht einverstanden sein sollte. Sein Kaffeehausleben, die vielen Zeitungsartikel, die er gelesen, ohne sie zu verstehen, hatten einen fürchterlichen Schwätzer aus ihm gemacht, der die sonderbarsten politischen Ansichten der Welt zutage förderte. Man muß einmal in irgendeiner kleinen Schenke in der Provinz gehört haben, wie einer dieser Mißgünstigen, die schlecht verdauen, was sie lesen, hochtrabend daherredet, um eine Vorstellung davon zu gewinnen, zu welchem Grad böswilliger Dummheit Macquart gelangt war. Da er viel schwatzte, gedient hatte und selbstverständlich als ein schneidiger Mann galt, umringten ihn einfältige Leute und hörten ihm zu. Zwar war er kein Parteioberhaupt, doch hatte er eine kleine Gruppe von Arbeitern um sich zu sammeln gewußt, die seine neidische Wut für ehrlich überzeugte Entrüstung hielten.
    Seit den Februartagen glaubte er, ganz Plassans stehe ihm zu, und die höhnische Art, mit der er, wenn er durch die Straßen ging, die kleinen Geschäftsleute betrachtete, die erschrocken auf der Schwelle ihres Ladens standen, besagte unmißverständlich: Unsere Zeit ist jetzt gekommen, meine Schäfchen, und wir werden euch fein tanzen lassen! Er war unglaublich frech geworden und spielte seine Rolle als Eroberer und Despot so gut, daß er nicht mehr bezahlte, was er im Café verzehrte, und daß der Besitzer, ein Schwachkopf, der bei seinem Augenrollen das Zittern bekam, niemals wagte, ihm eine Rechnung vorzulegen. Wie viele Täßchen Kaffee er zu jener Zeit trank, ließ sich gar nicht mehr berechnen. Manchmal lud er Freunde ein und schrie stundenlang, daß das Volk verhungere und daß die Reichen mit ihm teilen müßten. Er selber aber würde den Armen nicht einen Sou geschenkt haben.
    Was ihn vor allem zum wütenden Republikaner machte, war die Hoffnung, sich endlich an den Rougons rächen zu können, die sich offen auf die Seite der Reaktion gestellt hatten. Oh, welcher Triumph, wenn er eines Tages Pierre und Félicité in die Gewalt bekäme! Obschon es diesen keineswegs glänzend ging, waren sie doch in das Bürgertum aufgestiegen, während er, Macquart; Arbeiter geblieben war. Das machte ihn wild. Als noch demütigender empfand er es vielleicht, daß einer ihrer Söhne Rechtsanwalt, ein anderer Arzt und der dritte Beamter war, während sein Jean bei einem Tischler und seine Gervaise bei einer Wäscherin arbeiteten. Wenn er die Macquarts mit den Rougons verglich, so empfand er es außerdem als große Schande, daß er mit ansehen mußte, wie seine Frau

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