Das Glück der Familie Rougon - 1
lassen; durch die Dunkelheit ihrer Behausung, den ständigen Anblick derselben Gegenstände war ihr Blick erloschen, und ihre Augen waren durchsichtig geworden wie Quellwasser. Vollständige Entsagung, ein langsamer leiblicher und geistiger Tod hatten allmählich aus der Liebessüchtigen eine ernste Matrone gemacht. Wenn diese Augen mechanisch und blicklos irgendwohin starrten, sah man wie durch zwei helle, tiefe Löcher in eine große innere Leere. Nichts war von ihrer früheren wollüstigen Leidenschaftlichkeit übriggeblieben als erschlafftes Fleisch und ein greisenhaftes Zittern der Hände. Mit der Wildheit einer Wölfin hatte sie geliebt, und jetzt hauchte ihr armer verbrauchter Leib, der schon für den Sarg reif war, nur noch den faden Geruch welken Laubes aus. Seltsames Werk der Nerven, der brennenden Begierden, die sich selber verzehrt hatten in strenger, unfreiwilliger Enthaltsamkeit. Nach dem Tode Macquarts, des Mannes, der für ihr Dasein unentbehrlich geworden war, hatte ihr Liebesbedürfnis in ihrem Innern weitergeglüht und sie ausgebrannt wie ein in ein Kloster gesperrtes Mädchen, ohne daß sie je daran gedacht hatte, es zu befriedigen. Ein Leben der Schande hätte sie vielleicht weniger erschlafft, weniger abgestumpft zurückgelassen als dieser ständige Hunger, der sich in langsamer, geheimer Zerstörungsarbeit stillte und ihren Organismus veränderte.
Zuweilen durchzuckten diese Abgestorbene, diese blasse alte Frau, die keinen Tropfen Blut mehr in den Adern zu haben schien, noch Nervenkrämpfe wie elektrische Ströme, die sie galvanisierten und für eine Stunde mit grausiger Lebendigkeit erfüllten. Sie blieb wie erstarrt auf ihrem Bett liegen, die Augen weit geöffnet; dann ergriff sie heftiges Schluchzen, und sie schlug um sich. Sie hatte dabei die erschreckenden Kräfte verrückter Hysteriker, die man festbinden muß, damit sie sich nicht den Kopf an der Wand einrennen. Ihr armer leidender Körper wurde durch diese Rückkehr ihrer einstigen Begierden, dieser plötzlichen Anfälle in herzzerreißender Weise geschüttelt. Es war, als bräche die ganze heiße Leidenschaft ihrer Jugend schmachvoll aus der Kälte ihrer siebzig Jahre hervor. Wenn sie dann wieder aufstand und völlig benommen hin und her taumelte, machte sie einen so verstörten Eindruck, daß die Klatschbasen der Vorstadt sagten: »Sie hat getrunken, die verrückte Alte!«
Das kindliche Lächeln des kleinen Silvère war für sie ein letzter bleicher Sonnenstrahl, der ihren kalten Gliedern etwas Wärme schenkte. Sie hatte um das Kind gebeten, weil sie der Einsamkeit müde war und der Gedanke, allein während eines Anfalls zu sterben, sie beängstigte. Dieses Bübchen, das um sie herum spielte, schien ihr wie ein Schutz gegen den Tod. Ohne je aus ihrer Schweigsamkeit herauszugehen, ohne daß ihre automatenhaften Bewegungen geschmeidiger wurden, war sie doch von einer unaussprechlichen Zärtlichkeit für den Knaben erfaßt. Steif und stumm sah sie stundenlang seinen Spielen zu, lauschte mit Entzücken dem unerträglichen Getöse, mit dem er das alte baufällige Haus erfüllte. Dieses Grab zitterte durch und durch von Lärm, seit Silvère auf einem Besenstiel darin herumritt, gegen alle Türen rannte, weinte und schrie. Er brachte Adélaïde wieder auf die Erde zurück. Sie beschäftigte sich in rührender Ungeschicklichkeit mit ihm; sie, die in ihrer Jugend die Mutterpflichten vergessen hatte, um Geliebte zu sein, durchlebte die himmlischen Wonnen einer jungen Mutter, wenn sie das Kind wusch und anzog, beständig über seinem zarten Leben wachte. Es war eine Auferstehung der Liebe, eine letzte gesänftigte Leidenschaft, die der Himmel dieser vom Bedürfnis zu lieben völlig zerstörten Frau gewährte. Rührende, letzte Zuckungen eines Herzens, das einst in heftigem Begehren geschlagen hatte und nun in der Liebe zu einem Kind erlosch.
Sie war schon zu ermattet für die geschwätzigen Herzensergüsse guter, behäbiger Großmütter; sie betete das Waisenkind im geheimen an mit der Scheu eines jungen Mädchens und ohne Liebkosungen. Manchmal nahm sie den Jungen auf den Schoß und schaute ihn lange an mit ihren erloschenen Augen. Wenn dann der Kleine, erschreckt von diesem weißen, stillen Gesicht, zu weinen anfing, schien sie verwirrt durch das, was sie soeben getan, und setzte ihn schnell wieder auf den Boden nieder, ohne ihm einen Kuß zu geben. Vielleicht gewahrte sie an ihm eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Wilderer Macquart.
So
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