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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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allgemeinen Glück klangen die Worte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit mit jenem tiefen, heiligen Glockenton in sein Ohr, der die Gläubigen auf die Knie sinken läßt. Als er daher erfuhr, daß in Frankreich soeben die Republik ausgerufen worden sei, glaubte er, alle Welt werde fortan in himmlischer Glückseligkeit leben. Seine Halbbildung ließ ihn weiter blicken als andere Arbeiter; sein Sehnen ging nach mehr als nach dem täglichen Brot, aber seine tiefe Einfalt, seine völlige Unkenntnis der Menschen hielten ihn in einem rein theoretischen Traum befangen, in einem Paradies, wo ewige Gerechtigkeit herrschte. Dieses sein Paradies war lange Zeit hindurch eine Stätte der Seligkeit für ihn, wo er sich völlig vergaß. Als er zu sehen glaubte, daß nicht alles zum besten stünde in der besten aller Republiken, ergriff ihn ein ungeheurer Schmerz; er schuf sich einen neuen Traum, den, alle Menschen zu ihrem Glück zu zwingen, und sei es mit Gewalt. Jede Handlung, die das Wohl des Volkes außer acht zu lassen schien, erregte eine rachsüchtige Empörung in ihm. Er, der sanft war wie ein Kind, konnte rasend werden vor politischem Haß. Er, der keine Fliege zerdrückt hätte, sprach ständig davon, zur Waffe zu greifen. Die Freiheit wurde seine Leidenschaft, eine ausschließliche, unsinnige Leidenschaft, der er sich mit der ganzen Hitze seines jungen Blutes hingab. Blind vor Begeisterung, zu unwissend und zu gebildet zugleich, um duldsam zu sein, wollte er nicht mit der Unvollkommenheit der Menschen rechnen; er verlangte eine ideale Herrschaft vollkommener Gerechtigkeit und völliger Freiheit. Gerade um diese Zeit beabsichtigte sein Onkel Macquart, ihn auf die Rougons zu hetzen. Er sagte sich, daß dieser junge Narr zu fürchterlichen Dingen fähig sein müsse, wenn es ihm gelänge, ihn im erforderlichen Maße aufzuwiegeln. Diese Rechnung ermangelte nicht einer gewissen Schlauheit.
    Antoine versuchte also, Silvère an sich heranzuziehen, indem er eine unbegrenzte Bewunderung für die Ideen des jungen Burschen an den Tag legte. Gleich zu Anfang hätte er beinahe alles verdorben, denn er hatte eine recht eigennützige Auffassung vom Triumph der Republik als von einer Zeit glücklichen Faulenzens und endloser Fressereien, womit er die rein sittlichen Ideale seines Neffen verletzte. Als er einsah, daß er sich auf dem Holzweg befand, stürzte er sich in ein seltsames Pathos, ein Daherreden hohler und tönender Worte, die Silvère als hinreichenden Beweis für des Onkels Bürgersinn hinnahm. Bald sahen Onkel und Neffe einander zwei oder dreimal in der Woche. In langen Unterhaltungen, in denen das Schicksal des Landes munter entschieden wurde, versuchte Antoine dem jungen Burschen die Überzeugung beizubringen, der Salon der Rougons sei das Haupthindernis für das Glück Frankreichs. Doch abermals war er auf dem falschen Wege, als er seine Mutter vor Silvère eine »alte Spitzbübin« nannte. Er ging so weit, ihm die vergangenen Sünden der armen Alten zu erzählen. Rot vor Scham hörte der junge Bursche zu, ohne den Onkel zu unterbrechen. Er hatte ihn nicht nach diesen Dingen gefragt; sein Herz blutete bei diesen Enthüllungen, die ihn in seiner ehrfürchtigen Liebe für Tante Dide kränkten. Von diesem Tage an umgab er seine Großmutter mit noch vermehrter Sorge; er hatte für sie ein gutes Lächeln und einen gütigen, verzeihenden Blick. Macquart hatte übrigens gemerkt, daß er eine Dummheit begangen hatte, und war nun bemüht, sich Silvères Zuneigung für Tante Dide zunutze zu machen, indem er die Vereinsamung und Verarmung Adélaïdes den Rougons zur Last legte. Wenn man ihn reden hörte, war er selber immer der beste der Söhne gewesen, während sich sein Bruder gemein verhalten hatte: erst hatte er seiner Mutter alles weggenommen, und heute, wo sie keinen Sou mehr besaß, schämte er sich ihrer. Über diesen Gegenstand fand sein Geschwätz kein Ende. Zu Onkel Antoines großer Genugtuung war Silvère empört über seinen Onkel Pierre.
    Bei jedem Besuch des jungen Burschen wiederholten sich die gleichen Vorgänge. Er kam abends während des Essens der Familie Macquart. Der Vater verschlang mit Brummen irgendein Kartoffelgericht. Er suchte sich die Speckstücke heraus und folgte der Schüssel mit den Augen, wenn sie zu Jean und Gervaise kam.
    »Siehst du, Silvère«, sagte er mit dumpfer Wut, die er nur schlecht unter einer Miene ironischer Gleichgültigkeit verbarg, »wieder Kartoffeln, immer Kartoffeln! Wir essen

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