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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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einen grünen Zweig kam, darf man gewiß nicht diesen friedlichen und gewissenhaften Burschen dafür verantwortlich machen, der dazu geboren schien, sein Leben hinter dem Ladentisch eines Kolonialwarenhändlers zu verbringen, zwischen einem Ölkrug und einem Paket Stockfisch. Obwohl er große äußerliche Ähnlichkeit mit seiner Mutter hatte, besaß er vom Vater her einen zwar beschränkten, aber rechtlich denkenden Verstand, eine angeborene Vorliebe für das geordnete Leben und das auf Sicherheit ausgehende Geschäftsgebaren des Kleinhandels. Drei Monate nach seinem Eintritt bei Rougon gab dieser ihm seine Tochter Marthe zur Frau, in Fortführung seiner Wiedergutmachungsbemühungen und auch, weil er nicht wußte, wie er sich seine Jüngste anders vom Hals schaffen sollte. Die beiden jungen Leute hatten sich gleich in den ersten Tagen ineinander verliebt. Ein sonderbarer Umstand hatte zweifellos ihre gegenseitige Zuneigung begründet und gefördert: Sie glichen einander so auffallend, wie man es sonst nur bei Geschwistern findet. François hatte durch Ursule das Gesicht Adélaïdes, der Großmutter, geerbt. Der Fall Marthes war noch merkwürdiger: auch sie war Adélaïde wie aus dem Gesicht geschnitten, obwohl an Pierre Rougon kein Zug von seiner Mutter zu stammen schien; die körperliche Ähnlichkeit hatte hier Pierre übersprungen, um desto stärker bei seiner Tochter in Erscheinung zu treten. Übrigens beschränkte sich die geschwisterliche Gleichartigkeit der jungen Ehegatten auf die Gesichtszüge; während man in François den würdigen Sohn des Hutmachers Mouret wiederfand, ordnungsliebend und ein wenig schwerblütig, hatte Marthe die Verstörtheit und innere Zerrüttung ihrer Großmutter, deren seltsame und getreue Wiederholung nach Überspringen einer Generation sie darstellte. Vielleicht war es gerade die körperliche Ähnlichkeit und die moralische Verschiedenheit, die sie einander in die Arme trieb. Zwischen 1840 und 1844 bekamen sie drei Kinder. François blieb bei seinem Onkel, bis dieser sich vom Geschäft zurückzog. Pierre wollte ihn zu seinem Nachfolger machen, doch der junge Mann wußte Bescheid über die Gewinnaussichten, die der Handel in Plassans bot; er lehnte ab und ließ sich mit seinen kleinen Ersparnissen in Marseille nieder.
    Macquart mußte es bald aufgeben, diesen einfachen, arbeitsamen jungen Mann, den er aus der Mißgunst des Faulenzers heraus geizig und hinterhältig nannte, in seinen Kampf gegen die Rougons hineinzuziehen. Doch in dem zweiten Sohn Mourets, Silvère, einem Burschen von fünfzehn Jahren, glaubte er den Mithelfer gefunden zu haben, den er suchte. Als man Mouret zwischen den Kleidern seiner Frau erhängt auffand, ging der kleine Silvère noch nicht einmal zur Schule. Da sein älterer Bruder nicht wußte, was er mit dem armen Kerlchen anfangen sollte, nahm er ihn mit zu seinem Onkel. Dieser zog ein Gesicht, als er das Kind ankommen sah; er hatte nicht die Absicht, seine Wiedergutmachung so weit zu treiben, daß er einen unnützen Esser durchfütterte. Silvère, dem auch Félicité nicht wohlgesonnen war, wuchs unter Tränen heran wie ein unglückliches Findelkind, bis seine Großmutter bei einem der seltenen Besuche, die sie den Rougons machte, Mitleid mit ihm hatte und bat, ihn zu sich nehmen zu dürfen. Pierre war hocherfreut; er ließ das Kind ziehen, ohne daß von einer Erhöhung der schmalen Pension, die er seiner Mutter bewilligte, auch nur die Rede war; das Geld mußte in Zukunft für zwei ausreichen.
    Adélaïde zählte damals beinahe fünfundsiebzig Jahre. Sie war in ihrer klösterlichen Abgeschiedenheit alt geworden, und nichts erinnerte mehr an das schlanke, heißblütige junge Mädchen, das sich einst dem Wilddieb Macquart an den Hals geworfen hatte. Sie war steif und starr geworden hinten in ihrem verfallenen Häuschen in der SaintMittreSackgasse, in diesem stillen, finsteren Loch, worin sie ganz allein hauste und das sie kaum einmal im Monat verließ; sie ernährte sich von Kartoffeln und getrocknetem Gemüse. Wenn man sie vorübergehen sah, hätte man sie für eine jener alten Nonnen mit weichem, weißem Gesicht und automatenhaftem Gang halten können, die das Klosterleben der Welt entfremdet hat. Das bleiche Gesicht Adélaïdes, das stets sorgfältig von einer weißen Haube umrahmt war, schien das einer Sterbenden zu sein, mit verwischten, maskenhaften Zügen, friedlich und von erhabenem Gleichmut. Die Gewohnheit langen Schweigens hatte sie verstummen

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