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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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über und über glänzend von Lack, und sich vorgenommen, einmal ebensolche schönen Wagen zu bauen. Diese Kalesche blieb ihm wie ein seltener, einmaliger Kunstgegenstand in Erinnerung, wie ein Ideal, nach dem sein ganzes Arbeitersehnen trachtete. Die zweirädrigen Wagen, an denen er bei Vian arbeitete, diese Halbkutschen, an die er bisher soviel liebevolle Sorgfalt verwendet hatte, schienen ihm nun seiner zärtlichen Aufmerksamkeit unwürdig. Er begann einen Zeichenkursus zu besuchen, wo er sich mit einem entlaufenen Gymnasiasten befreundete, der ihm sein altes Lehrbuch der Geometrie lieh. Jetzt vertiefte er sich ohne jede Anleitung darein und zerbrach sich wochenlang den Kopf, um die einfachsten Dinge der Welt zu begreifen. So wurde aus ihm einer jener gelehrten Arbeiter, die kaum ihren Namen schreiben können und dabei von der Algebra reden wie von einem guten Bekannten. Nichts verwirrt den Verstand mehr als diese Art von zusammenhanglosem Wissen, das auf keiner festen Grundlage ruht. Meistens vermitteln solche Krümel von Gelehrsamkeit eine durch und durch falsche Vorstellung von den höheren Wahrheiten und machen die Armen im Geiste unerträglich vor Dreistigkeit. Bei Silvère jedoch ließen diese hier und dort gestohlenen Wissensbrocken nur seine edle jugendliche Begeisterung wachsen. Er war sich der weiten Gebiete bewußt, die ihm verschlossen blieben. Wie ein Heiligtum erschienen ihm die Dinge, an die er nicht heranreichen konnte, und er lebte in einer tiefen und kindlichen Ehrfurcht vor den großen Gedanken und großen Aussprüchen, an die er sich heraufarbeitete, ohne sie doch je zu begreifen. Er war ein Einfältiger, einer jener erhabenen Einfältigen, die auf der Schwelle des Tempels knien, vor den Kerzen, die sie von weitem für Sterne halten.
    Das Häuschen in der SaintMittreSackgasse bestand zunächst aus einem großen Raum, in den die Tür von der Straße her unmittelbar hineinführte. Dieser Raum, dessen Boden gepflastert war und der gleichzeitig als Küche und als Wohnstube diente, enthielt als einzige Ausstattung einige Strohstühle, eine Tischplatte auf zwei Böcken und eine alte Truhe, über deren Deckel Adélaïde einen Fetzen Wollstoff gebreitet hatte, um so ein Kanapee daraus zu machen. In einer Ecke, links von einem breiten Kamin, befand sich eine Heilige Jungfrau aus Gips, von künstlichen Blumen umgeben, die herkömmliche Schutzpatronin aller alten Frauen in der Provence, mögen sie noch sowenig fromm sein. Ein Gang führte von dem Raum nach einem kleinen Hof hinter dem Haus, wo sich ein Brunnen befand. Links vom Gang lag Tante Dides Zimmer, ein schmaler Raum mit einem eisernen Bett und einem einzigen Stuhl; rechts in einer noch engeren Kammer, die gerade Platz für ein Gurtbett bot, schlief Silvère. Um all seine geliebten zerfetzten Bücher, die er Sou für Sou bei einem benachbarten Trödler erstanden hatte, um sich zu haben, mußte er ein ganzes Brettergerüst erfinden, das bis zur Decke reichte. Wenn er nachts las, hängte er die Lampe an einen Nagel über das Kopfende seines Bettes. Sobald die Großmutter einen Anfall bekam, war er beim ersten Röcheln mit einem einzigen Sprung bei ihr.
    Das Leben des jungen Burschen blieb das des Kindes. Dieser verlorene Winkel war seine ganze Welt. Er hatte die gleiche Abneigung gegen Wirtshaus und Sonntagsbummel wie sein Vater. Seine Kameraden verletzten mit ihren rohen Vergnügungen sein Feingefühl. Er las lieber und grübelte über eine ganz einfache geometrische Aufgabe nach. Seit ihn Tante Dide mit den kleinen Haushaltsbesorgungen betraute, ging sie nicht mehr aus und wurde sogar für ihre Familie eine Fremde. Manchmal dachte der junge Bursche über diese Verlassenheit nach; er betrachtete die arme Alte, die nur zwei Schritt von ihren Kindern entfernt lebte und die diese zu vergessen suchten, als sei sie eine Verstorbene. Er liebte sie darum noch mehr, er liebte sie für sich und für die andern. Wenn es ihm hie und da undeutlich bewußt wurde, daß Tante Dide für die Fehler ihrer Vergangenheit büße, dann sagte er sich: Ich bin auf der Welt, um ihr zu verzeihen.
    In solch einem zugleich feurigen und verschlossenen Geist wurden die republikanischen Ideen natürlich leicht zur Schwärmerei. Nachts las Silvère in seinem Verschlag immer wieder einen Band Rousseau49, den er beim benachbarten Trödler unter alten Türschlössern entdeckt hatte. Was er dort las, hielt ihn bis zum Morgen wach. Aus diesem allen Unglücklichen teuren Traum vom

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