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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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wuchs Silvère auf im ständigen Beisammensein mit Adélaïde. In kindlicher Schmeichelei nannte er sie »Tante Dide«, ein Name, der der alten Frau schließlich blieb. Die Bezeichnung »Tante«, auch auf andere Verwandtschaftsgrade angewandt, ist in der Provence ein einfaches Kosewort. Das Kind hegte eine eigenartige, mit ehrfürchtiger Angst gemischte Liebe für seine Großmutter. Solange der Junge noch ganz klein war, rannte er, wenn sie einen ihrer Anfälle bekam, weinend davon, entsetzt von dem entstellten Gesicht; war dann der Krampf vorüber, so kehrte er furchtsam zurück, jeden Augenblick bereit, wieder fortzulaufen, als wäre die arme Alte imstande gewesen, ihn zu schlagen. Später, mit zwölf Jahren, blieb er tapfer bei ihr und paßte auf, daß sie sich nicht verletzte, wenn sie aus dem Bett fiel. Stundenlang hielt er sie fest in den Armen, um die heftigen Zuckungen zu mildern, die ihre Glieder verkrampften. Trat eine Pause im Anfall ein, so betrachtete er mit tiefem Mitleid das verzerrte Gesicht und den abgemagerten Körper, dem die Kleider wie ein Leichentuch anlagen. Diese verborgenen, tragischen Vorgänge, die sich jeden Monat wiederholten – die alte Frau, die kalt und steif dalag wie eine Tote, und das Kind, das sich über sie beugte und still und gespannt auf die Wiederkehr des Lebens wartete –, all das wurde in der Dunkelheit des alten Häuschens zu einem merkwürdigen Schauspiel düsteren Entsetzens und herzzerreißender Güte. Wenn Tante Dide wieder zu sich kam, stand sie mühsam auf, brachte ihr Kleid in Ordnung und begann wieder in der Behausung nach dem Rechten zu sehen, ohne auch nur eine Frage an Silvère zu richten. Sie erinnerte sich an nichts mehr, und das Kind vermied aus unbewußter Vorsicht die geringste Anspielung auf das, was sich soeben zugetragen hatte. Gerade diese immer wieder auftretenden Nervenanfälle verbanden Enkel und Großmutter eng miteinander. Aber ebenso, wie sie ihn ohne geschwätzige Herzensergüsse liebte, verbarg auch er seine Zuneigung, als schäme er sich ihrer. So dankbar er ihr war, daß sie ihn aufgenommen und erzogen hatte, sah er im Grunde genommen in ihr stets ein außergewöhnliches, von unbekannten Übeln heimgesuchtes Wesen, das man bedauern und schonen mußte. Es war gewiß nicht mehr genug von einem warmen Menschen in Adélaïde, sie war zu blaß und zu starr, als daß Silvère gewagt hätte, ihr um den Hals zu fallen. So lebten sie in einem traurigen Schweigen dahin, auf dessen Grund sie das Beben einer unendlichen Zärtlichkeit spürten.
    Diese lastende und schwermütige Atmosphäre, in der Silvère seit seiner Kindheit atmete, machte seine Seele stark und erfüllte sie mit Begeisterungsfähigkeit. So wurde er frühzeitig ein ernster, bedächtiger kleiner Mann, der mit einer Art Eigensinn nach Wissen strebte. In der Schule der Ordensbrüder, die er mit zwölf Jahren verlassen mußte, um in die Lehre zu gehen, hatte er nur ein wenig Rechnen und Rechtschreibung gelernt. Zeitlebens fehlten ihm die Anfangsgründe. Aber er las jedes noch so zerfetzte Buch, das ihm in die Hand fiel, und beschaffte sich dadurch ein merkwürdiges geistiges Gepäck; er hatte sich Kenntnisse über allerlei Dinge erworben, aber bruchstückhaft und schlecht verdaut, so daß es ihm nie gelang, sie in seinem Kopf klar zu ordnen. Als ganz kleiner Knirps war er zu einem Stellmacher spielen gegangen, einem braven Mann namens Vian, dessen Werkstatt am Anfang der Sackgasse gegenüber dem SaintMittreHof lag, wo er seine Holzvorräte lagerte. Silvère kletterte auf die Räder der Wagen, die dort zur Ausbesserung standen; es machte ihm Spaß, die schweren Werkzeuge herumzuschleppen, die seine kleinen Hände kaum zu heben vermochten. Eine seiner größten Freuden bestand damals darin, den Arbeitern zu helfen, indem er ihnen ein Stück Holz hielt oder ihnen die Eisenteile brachte, die sie gerade brauchten. Als er heranwuchs, trat er ganz selbstverständlich als Lehrling bei Vian ein, der ihn schon gern hatte, als er ihm noch als kleiner Schlingel zwischen den Beinen herumlief, und der nun Adélaïde anbot, ihn ohne das geringste Kostgeld aufzunehmen. Silvère stimmte mit großem Eifer zu und sah bereits den Augenblick voraus, in dem er der armen Tante Dide zurückerstatten könnte, was sie für ihn aufgewendet hatte. In kurzer Zeit wurde er ein ausgezeichneter Arbeiter. Doch sein Ehrgeiz ging nach Höherem. Er hatte bei einem Wagnermeister in Plassans eine schöne neue Kalesche gesehen,

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