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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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nach fühlten sie, wie ihre Umarmung sie brannte und wie sich ihre Brust in gleichen Atemzügen hob. Mattigkeit überkam sie und tauchte sie in fiebrige Schläfrigkeit. Jetzt war ihnen warm; Lichter tanzten vor ihren geschlossenen Lidern, verworrene Geräusche stiegen ihnen ins Gehirn. Dieser Zustand schmerzlicher Wohligkeit erschien den beiden wie eine Ewigkeit, obwohl er nur ein paar Minuten währte. Und dann fanden sich wie im Traum ihre Lippen. Ihr Kuß war lang, gierig. Es kam ihnen vor, als hätten sie einander noch nie geküßt. Sie litten, und sie trennten sich. Als dann die Kälte der Nacht ihr Glut gekühlt hatte, hielten sie sich in großer Verwirrung in einiger Entfernung voneinander.
    Noch immer tönte unheimlich das Zwiegespräch der beiden Glocken in dem schwarzen Abgrund, der rings um die beiden jungen Menschen gähnte. Die zitternde und erschrockene Miette wagte nicht, sich Silvère zu nähern. Sie wußte nicht einmal mehr, ob er noch da war; sie hörte gar nicht mehr, daß er sich bewegte. Beide waren sie erfüllt von dem herben Erlebnis ihres Kusses. Liebesworte drängten sich ihnen auf die Lippen; sie hätten einander danken, einander weiterküssen mögen, aber sie schämten sich so sehr ihres heißen Glücks, daß sie es lieber kein zweites Mal gekostet hätten, als laut davon zu sprechen. Wäre ihr Blut nicht aufgewühlt gewesen vom schnellen Gehen und hätte sich die dunkle Nacht nicht mitschuldig gemacht, so hätten sie einander noch lange wie gute Kameraden auf die Wangen geküßt. Miette wurde befangen. Nach dem brennenden Kuß Silvères, in diesem seligen Dunkel, darin sich ihr Herz auftat, fielen ihr die Roheiten Justins wieder ein. Wenige Stunden vorher hatte sie, ohne zu erröten, diesen Kerl angehört, der sie wie eine Dirne behandelte. Er hatte gefragt, wann die Taufe sei, und ihr zugerufen, sein Vater werde sie mit ein paar Fußtritten entbinden, sollte es ihr jemals einfallen, den JasMeiffren wieder zu betreten, und sie hatte geweint, ohne zu Verstehen, sie hatte geweint, weil sie ahnte, daß das lauter Gemeinheiten sein sollten. Jetzt, da sie zur Frau erwachte, sagte sie sich – ein letztes Mal noch völlig unschuldig –, daß der Kuß, dessen Brennen sie noch spürte, vielleicht genüge, um sie mit jener Schande zu erfüllen, deren ihr Vetter sie beschuldigte. Da erfaßte sie ein wilder Schmerz, und sie brach in Schluchzen aus.
    »Was ist dir? Warum weinst du?« fragte Silvère besorgt.
    »Nein, laß«, stammelte sie, »ich weiß nicht.« Und dann, wie gegen ihren Willen, brachte sie unter Tränen heraus: »Ach, ich bin ein Unglücksmensch! Als ich zehn Jahre alt war, warf man mit Steinen nach mir. Heute behandelt man mich wie das verworfenste Geschöpf. Justin hat mich mit Recht vor aller Welt beschimpft. Wir haben eben etwas Schlechtes getan, Silvère.«
    Bestürzt nahm der junge Bursche Miette von neuem in die Arme und versuchte sie zu trösten.
    »Ich habe dich lieb!« flüsterte er. »Ich bin dein Bruder. Warum sagst du, wir hätten etwas Schlechtes getan? Wir haben uns umarmt, weil wir froren. Du weißt doch, daß wir uns jeden Abend beim Abschied umarmten.«
    »Oh, nicht so wie vorhin«, sagte sie mit sehr leiser Stimme. »Das dürfen wir niemals wieder tun, hörst du? Es muß etwas Verbotenes sein, denn mir war ganz sonderbar zumute. Jetzt werden alle Männer lachen, wenn ich vorbeigehe. Und ich werde nicht mehr den Mut haben, mich zu verteidigen, denn jetzt haben sie recht.«
    Silvère schwieg, weil er keine Worte fand, um das verstörte Gemüt dieses großen Kindes zu beschwichtigen, das mit seinen dreizehn Jahren beim ersten Liebeskuß vor Angst am ganzen Leibe zitterte. Er zog Miette sanft an sich; er nahm an, daß es sie beruhigen würde, die sacht betäubende Wärme der Umarmung erneut zu spüren. Doch sie wehrte sich und fuhr fort:
    »Wenn du nur wolltest, würden wir weit weggehen, die Heimat verlassen. Ich kann nicht mehr nach Plassans zurück; mein Onkel würde mich verprügeln, die ganze Stadt würde mit Fingern auf mich zeigen …« Dann, wie in plötzlicher Gereiztheit: »Nein, ich bin verflucht. Ich verbiete dir, Tante Dide zu verlassen, um mit mir zu gehen. Du mußt mich irgendwo auf der Landstraße stehenlassen.«
    »Miette, Miette, sag doch so etwas nicht!« bat Silvère inständig.
    »Doch, ich werde dich von mir befreien. Sei vernünftig. Man hat mich davongejagt wie ein schlechtes Frauenzimmer. Käme ich mit dir zurück, so würdest du dich täglich

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