Das Glück der Familie Rougon - 1
mit irgendwem herumschlagen. Das will ich nicht.«
Der junge Bursche küßte sie abermals auf den Mund und flüsterte:
»Du wirst meine Frau. Niemand wird mehr wagen, dich zu kränken.«
»Oh, ich flehe dich an«, sagte sie mit einem leisen Schrei, »küsse mich nicht mehr so. Es tut mir weh!« Dann, nach einem Schweigen: »Du weißt gut, daß ich nicht deine Frau werden kann. Wir sind zu jung. Ich müßte warten und würde vor Schande sterben. Du hast unrecht, dich aufzulehnen; du wirst mich doch in irgendeinem Winkel zurücklassen müssen.«
Silvère, am Ende seiner Kraft, fing an zu weinen. Das Schluchzen eines Mannes ist von erschütternder Härte. Miette, die bestürzt fühlte, wie der arme Junge in ihren Armen geschüttelt wurde, küßte ihn mitten ins Gesicht und vergaß dabei, daß sie ihm die Lippen versengte. Sie war schuld an dem allen. Sie war ein albernes Ding, als sie die brennende Süße einer Liebkosung nicht zu ertragen vermochte. Sie wußte nicht, warum sie gerade in dem Augenblick, da ihr Liebster sie küßte, wie er sie nie zuvor geküßt, an traurige Dinge gedacht hatte. Und sie drückte ihn an die Brust, um Verzeihung für den Kummer zu erbitten, den sie ihm bereitet hatte. Diese weinenden, einander mit unruhigen Armen umfangen haltenden Kinder machten die dunkle Dezembernacht noch trostloser. In der Ferne klagten noch unaufhörlich, mit immer keuchenderer Stimme die Glocken.
»Es wäre besser, zu sterben«, wiederholte Silvère unter Schluchzen. »Es wäre besser, zu sterben …«
»Weine doch nicht mehr, vergib mir«, stammelte Miette. »Ich will tapfer sein. Ich werde alles tun, was du willst.«
Als der junge Mann seine Tränen getrocknet hatte, meinte er:
»Du hast recht, wir können nicht nach Plassans zurück. Aber noch brauchen wir den Mut nicht sinken zu lassen. Wenn wir als Sieger aus dem Kampf hervorgehen, werde ich Tante Dide holen, und wir werden sie mit uns nehmen, weit weg. Wenn wir unterliegen …« Er hielt inne.
»Wenn wir unterliegen …?« wiederholte Miette leise.
»Dann gnade uns Gott!« fuhr Silvère mit schwächerer Stimme fort. »Dann werde ich sicher nicht mehr dasein, und du wirst die arme alte Frau trösten. Das wäre besser.«
»Ja, du hast es eben gesagt«, flüsterte das junge Mädchen, »es wäre besser, zu sterben.«
Bei diesem Verlangen nach dem Tode umfingen sie einander noch inniger. Miette wollte gern mit Silvère sterben. Er hatte nur von sich gesprochen, aber sie fühlte, daß er sie mit Freuden mit ins Grab nehmen würde. Dort würden sie sich ungestörter lieben dürfen als am lichten Tag. Auch Tante Dide würde sterben und zu ihnen kommen. Es war wie eine flüchtige Vorahnung, ein Sehnen voll seltsamer Wollust, dessen baldige Erfüllung ihnen der Himmel mit den trostlosen Stimmen der Sturmglocken verhieß. Sterben! Sterben! wiederholten die Glocken mit zunehmender Gewalt, und die Liebenden überließen sich diesem Ruf aus der Dunkelheit. Sie glaubten in der Schläfrigkeit, in die die Wärme ihrer Glieder und das Brennen ihrer Lippen, die sich erneut fanden, sie wieder tauchten, einen Vorgeschmack des letzten Schlummers zu kosten.
Miette wehrte sich nicht mehr. Jetzt war sie es, die ihren Mund auf Silvères Lippen preßte, die mit stummer Begierde jene Lust suchte, deren bitteren Brand sie zuerst nicht zu ertragen vermocht hatte. Der Traum eines nahen Todes hatte Fieberglut in ihr entfacht. Sie fühlte kein Erröten mehr. Sie klammerte sich an ihren Liebsten. Sie schien, ehe sie sich ins Grab legte, die neuen Wonnen auskosten zu wollen, an denen sie kaum genippt hatte. Es erregte sie, nicht sofort dieses prickelnde Unbekannte ergründen zu können. Jenseits des Kusses ahnte sie im Taumel ihrer erwachten Sinne etwas anderes, das sie erschreckte und doch lockte. Und sie gab sich hin; mit der nichts von Scham wissenden Harmlosigkeit einer noch Unberührten hätte sie Silvère bitten mögen, den Schleier zu zerreißen.
Er, der bei den Liebkosungen, die sie ihm schenkte, wie von Sinnen, kraftlos, wunschlos, vollkommen glücklich war, schien größere Wonnen nicht einmal für möglich zu halten.
Als Miette außer Atem war und das herbe Glück der ersten Umarmung schwinden fühlte, flüsterte sie:
»Ich will nicht sterben, ohne daß du mich geliebt hast. Ich will, daß du mich noch heißer liebst …« Sie fand keine Worte, nicht aus bewußtem Schamgefühl, sondern weil sie selber nicht wußte, wonach sie sich sehnte. Sie war nur von einem
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