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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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deren Türme und Obelisken, deren Häuser mit hohen Terrassen den halben Himmel verdeckten; und weit hinten, nach der Ebene zu, vertiefte und breitete sich ein Ozean von mattem Licht, ein verschwommener, grenzenloser Raum, in dem leuchtende Nebelschwaden schwammen. Die Aufständischen hätten glauben können, sie gingen über einen gigantischen Damm, einen am Ufer eines phosphoreszierenden Meeres gebauten Rundweg, rings um ein unbekanntes Babel.
    In dieser Nacht grollte die Viorne mit rauher Stimme am Fuß der Felsen unterhalb der Straße. Im ständigen Tosen des Flusses unterschieden die Aufständischen die schrillen, klagenden Töne der Sturmglocken. Dörfer, die jenseits des Flusses in der Ebene verstreut lagen, erhoben sich, läuteten Alarm und entzündeten Feuer. So sah die marschierende Kolonne, die ein Grabgeläute mit hartnäckigem Gebimmel durch die Nacht zu geleiten schien, wie sich bis zum Morgen der Aufruhr gleich einem Lauffeuer das Tal entlang fortsetzte. Die Feuer malten blutige Flecken in die Dunkelheit; fernes Singen tönte gedämpft zu ihnen herüber. Die ganze verschwimmende Weite, in das dunstige weißliche Licht des Mondes getaucht, regte sich verworren, hie und da von Zornausbrüchen erschüttert. Meilenweit bot sich immer wieder das gleiche Bild.
    Die Männer, die, geblendet durch das Fieber, das die Pariser Ereignisse in den Herzen der Republikaner erregt hatte, hier marschierten, begeisterten sich an dem Anblick dieses langen, vom Aufruhr geschüttelten Landstrichs. Berauscht vom Schwung der allgemeinen Erhebung, die sie erträumten, glaubten sie, ganz Frankreich folge ihnen. Sie vermeinten, in dem weiten Meer von mattem Licht jenseits der Viorne unendliche Züge von Menschen zu sehen, die wie sie zur Verteidigung der Republik herbeieilten. Und ihr schwerfälliger Verstand hatte in der kindlichen Einbildungskraft der Menge die Vorstellung von einem leichten und sicheren Sieg. Sie hätten jeden als Verräter ergriffen und erschossen, der ihnen in diesem Augenblick gesagt hätte, daß sie allein den Mut zur Pflichterfüllung aufbrächten, während sich das ganze übrige Land, von Angst gelähmt, feige knebeln ließ.
    Sie schöpften außerdem unaufhörlich neuen Mut aus dem Empfang, den ihnen die paar Marktflecken bereiteten, die am Abhang des Garrigues, am Rande ihres Weges lagen. Sobald das kleine Heer nahte, erhoben sich die Einwohner in Massen. Die Frauen liefen den Aufständischen entgegen und wünschten ihnen einen schnellen Sieg. Die Männer, kaum angekleidet, ergriffen die erstbeste Waffe, die ihnen in die Hände fiel, und schlossen sich ihnen an. In jedem Dorf gab es neue stürmische Begrüßungen, Willkommensrufe und oft wiederholte Abschiedsgrüße.
    Gegen Morgen verschwand der Mond hinter den Garriguesbergen. Die Aufständischen setzten ihren Eilmarsch in der stockdunklen Winternacht fort. Sie vermochten das Tal und die Hügel nicht mehr zu erkennen; sie vernahmen nur das harte Klagen der Glocken, die tief unten in der Finsternis schlugen gleich unsichtbaren, irgendwo verborgenen Trommlern, deren verzweifelte Wirbel sie unaufhörlich vorwärts peitschten.
    Derweil schritten Miette und Silvère noch immer inmitten der allgemeinen Begeisterung dahin. Gegen Morgen war das junge Mädchen völlig erschöpft. Sie trippelte nur noch hastig, da sie den ausgreifenden Schritten der kräftigen Burschen um sie her nicht folgen konnte. Aber sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, um nicht zu klagen; es wäre sie zu schwer angekommen, einzugestehen, daß sie nicht die Kräfte eines Jungen besaß. Nach den ersten Meilen hatte ihr Silvère den Arm geboten; als er dann sah, wie die Fahne ihr nach und nach aus den erstarrten Händen glitt, hatte er sie ihr abnehmen wollen, um es ihr leichter zu machen. Sie aber hatte sich ereifert und ihm nur erlaubt, den Schaft mit einer Hand zu stützen, während sie ihn weiter auf der Schulter trug. So bewahrte sie mit dem Eigensinn eines Kindes ihre heldenmütige Haltung und lächelte dem jungen Mann jedesmal zu, wenn er ihr einen besorgten zärtlichen Blick zuwarf. Als aber der Mond verschwand, gab sie in der Dunkelheit nach. Silvère fühlte, wie sie immer schwerer an seinem Arm hing. Er mußte die Fahne tragen und das junge Mädchen umfassen, damit sie nicht strauchelte. Noch immer kam keine Klage über ihre Lippen.
    »Bist du sehr müde, meine arme Miette?« fragte ihr Gefährte.
    »Ja, ein bißchen müde«, antwortete sie mit beklommener Stimme.
    »Sollen wir

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