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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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eine Weile ausruhen?«
    Sie sagte nichts, er erkannte jedoch, daß sie schwankend wurde. Da übergab er einem der Aufständischen die Fahne, trat aus dem Glied und trug das Kind fast im Arm fort. Miette wehrte sich ein wenig; sie schämte sich, ein so kleines Mädchen zu sein. Aber er beruhigte sie und sagte, er wisse einen Seitenweg, der die Entfernung um die Hälfte abkürze; sie könnten sich eine gute Stunde ausruhen und trotzdem gleichzeitig mit den anderen in Orchères eintreffen.
    Es war jetzt ungefähr sechs Uhr früh. Von der Viorne stieg wohl ein leichter Nebel auf. Die Dunkelheit schien sich noch zu verdichten. Die jungen Leute tasteten sich längs des Abhangs der Garrigues hinauf bis zu einem hohen Felsen, wo sie sich niedersetzten. Rings um sie her gähnte ein Abgrund von Finsternis. Wie auf die Spitze eines Riffs verschlagen, schwebten sie über der Leere. Und als sich das dumpfe Getöse des kleinen Heeres in der Ferne verloren hatte, hörten sie aus dieser Leere nur noch zwei Glocken, die eine ganz hell – sicherlich aus irgendeinem Dorf am Rand der Landstraße zu ihren Füßen –, während die andere, weit fort und dumpf, die erregte Klage der ersten mit fernem Schluchzen beantwortete. Es war, als erzählten die beiden Glocken einander im Nichts von dem unheilvollen Untergang einer Welt.
    Miette und Silvère waren von ihrem schnellen Marsch so erhitzt, daß sie die Kälte zunächst nicht spürten. Sie schwiegen und lauschten mit unsäglicher Traurigkeit dem Sturmgeläut, von dem die Nacht erschauerte. Sie konnten einander nicht einmal sehen. Miette hatte Angst; sie tastete nach Silvères Hand und behielt sie fest in der ihren. Nach dem Fiebertaumel, der die beiden stundenlang über sich selbst hinausgetragen und sie alles hatte vergessen lassen, waren sie bei diesem plötzlichen Halt, in dieser Einsamkeit, in der sie sich wieder dicht nebeneinander fanden, erschöpft und verwundert, als seien sie jäh aus einem wüsten Traum gerissen worden. Es war ihnen, als habe eine Flut sie an den Wegrand gespült, und das Meer sei dann wieder zurückgewichen. Eine unvermeidliche Reaktion ihrer Nerven tauchte sie in unbewußte Starre. Sie vergaßen ihre Begeisterung; sie dachten nicht mehr an die Männer, zu denen sie stoßen sollten. Sie gaben sich inmitten der unheimlichen Finsternis Hand in Hand dem schwermütigen Zauber des Alleinseins hin.
    »Du bist mir doch nicht böse?« fragte endlich das junge Mädchen. »Mit dir könnte ich die ganze Nacht hindurch gehen, aber die andern sind zu schnell gelaufen, ich bekam keine Luft mehr.«
    »Warum sollte ich dir böse sein?« meinte der junge Bursche.
    »Ich weiß nicht. Ich habe nur Angst, daß du mich nicht mehr liebhast. Ich hätte doch gern so große Schritte gemacht wie du, wäre gern immer weiter gegangen, ohne auszuruhen. Nun wirst du denken, ich sei ein Kind.«
    Silvère mußte im Dunkeln lächeln.
    Miette spürte es und fuhr entschlossen fort:
    »Du darfst mich nicht immer wie deine Schwester behandeln, ich will deine Frau sein.« Und sie zog Silvère an ihre Brust. Sie schloß ihn fest in die Arme und flüsterte: »Wir werden frieren, wir wollen uns gegenseitig wärmen.«
    Sie schwiegen. Bis zu dieser verworrenen Stunde hatten die jungen Menschen einander mit geschwisterlicher Zuneigung geliebt. In ihrer Unerfahrenheit hielten sie die Verlockung, die sie dazu trieb, sich immer wieder zu umarmen und einander länger umschlungen zu halten, als Bruder und Schwester es tun, noch für innige Freundschaft. Doch auf dem Grund dieser unschuldigen Zärtlichkeiten regte sich jeden Tag fühlbarer der Sturm von Miettes und Silvères feurigem Blut. Mit zunehmender Reife, mit wachsender Erkenntnis mußte aus dieser Idylle eine heiße Leidenschaft mit südlicher Glut emporlodern. Ein Mädchen, das einen Burschen umarmt, ist schon Weib, ein noch unbewußtes Weib, das eine einzige Liebkosung zum Erwachen bringen kann. Küssen sich Verliebte auf die Wangen, so ist das noch ein Tasten; sie suchen eigentlich die Lippen. Ein einziger Kuß macht sie zu Liebenden. In dieser dunklen, kalten Dezembernacht, bei den schrillen Klagetönen der Sturmglocken wechselten Miette und Silvère einen jener Küsse, die das ganze Herzblut in die Lippen treiben.
    Stumm blieben sie so sitzen, eng aneinandergeschmiegt. Miette hatte gesagt: »Wir wollen uns gegenseitig wärmen«, und nun warteten sie unschuldig darauf, daß ihnen warm werde. Bald drang eine laue Wärme durch ihre Kleider, nach und

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