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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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dumpfen, inneren Aufruhr und einem unendlichen Glücksverlangen erregt. In ihrer Unschuld hätte sie mit den Füßen stampfen mögen wie ein Kind, dem man ein Spielzeug verweigert.
    »Ich liebe dich! Ich liebe dich!« wiederholte Silvère ermattend.
    Miette schüttelte den Kopf. Sie schien sagen zu wollen, das sei nicht wahr, der junge Bursche verberge ihr etwas. Ihre starke freie Natur besaß ein geheimes Wissen von der Fruchtbarkeit des Lebens, und sie verweigerte sich dem Tod, wenn sie sie nicht erfahren sollte. Und diese Empörung ihres Blutes und ihrer Nerven gestand sie unbefangen ein durch ihre glühenden, umhertastenden Hände, durch ihr Stammeln, durch ihr Flehen.
    Dann wurde sie ruhig, legte den Kopf an die Schulter des Burschen und schwieg. Silvère beugte sich über sie und küßte sie lange. Sie genoß diese Küsse und dehnte sie hin, versuchte ihren Sinn, ihre geheime Köstlichkeit zu begreifen. Sie prüfte sie, hörte sie durch ihre Adern rieseln, befragte sie, ob denn in ihnen die ganze Liebe, die ganze Leidenschaft beschlossen sei. Mattigkeit überfiel sie. Sie entschlummerte sanft, hörte aber auch im Schlaf nicht auf, Silvères Zärtlichkeiten zu genießen. Er hatte sie in die große rote Pelisse gehüllt und mit einem Ende davon sich selber zugedeckt. Sie spürten die Kälte nicht mehr. Als Silvère an Miettes regelmäßigem Atem merkte, daß sie schlief, freute er sich über dieses Ausruhen, das ihnen ermöglichte, ihren Weg mit frischem Mut fortzusetzen. Er nahm sich vor, Miette eine Stunde schlafen zu lassen. Der Himmel war noch immer schwarz, kaum daß ein weißlicher Streifen im Osten das Nahen des Tages ankündigte. Hinter dem Liebespaar mußte ein Kiefernwald sein, denn Silvère hörte beim ersten Säuseln des Morgenwindes ein vielstimmiges Erwachen. Und in der erschauernden Luft wurden die Klagetöne der Glocken immer heller und wiegten Miette in ihrem Schlummer, wie sie vorher ihre Liebesglut begleitet hatten.
    Bis zu dieser Nacht der Wirrnisse hatten die beiden jungen Menschen in einem jener unschuldsvollen Idylle gelebt, wie sie unter Arbeitern, diesen Enterbten, diesen schlichten Seelen entstehen, bei denen man noch hier und da die ursprüngliche Liebe der alten griechischen Sagen wiederfindet.
    Miette war kaum neun Jahre alt gewesen, als ihr Vater ins Zuchthaus kam, weil er einen Gendarmen erschossen hatte. Der Prozeß Chantegreil war noch jetzt im ganzen Land berühmt. Der Wilddieb gestand die Tat offen ein, beschwor aber, daß der Gendarm seinerseits auf ihn Angelegt habe. »Ich bin ihm lediglich zuvorgekommen«, behauptete er, »ich habe mich nur verteidigt. Es war ein Zweikampf, kein Mord.« Er war von dieser Auffassung nicht abgegangen. Der Vorsitzende des Gerichtshofes vermochte ihm nicht begreiflich zu machen, daß ein Gendarm wohl das Recht habe, auf einen Wilderer zu schießen, der Wilderer aber nicht auf einen Gendarmen schießen dürfe. Chantegreil entging der Guillotine dank seiner überzeugten Haltung und seines guten Vorlebens. Der Mann weinte wie ein Kind, als man ihm vor seiner Abfahrt nach Toulon sein Töchterchen brachte. Nun blieb die Kleine, die noch in der Wiege gelegen hatte, als die Mutter starb, beim Großvater in Chavanoz, einem Dorf in einer der SeilleSchluchten. Als der Wilderer nicht mehr da war, lebten der Alte und das Kind von Almosen. Die Einwohner von Chavanoz, alles Jäger, nahmen sich der armen Geschöpfe an, die der Sträfling hinterlassen hatte. Doch der Alte starb vor Kummer, die allein zurückgebliebene Miette hätte auf der Landstraße betteln gehen müssen, wenn den Nachbarinnen nicht eingefallen wäre, daß die Kleine in Plassans eine Tante hatte. Eine mitleidige Seele fand sich bereit, das Kind zu dieser Tante zu bringen, die es recht unfreundlich empfing.
    Eulalie Chantegreil, mit dem Halbpächter Rébufat verheiratet, war ein großes, eigenwilliges, schwarzes Teufelsweib, das zu Hause die Hosen anhatte. Sie führte ihren Mann an der Nase herum, sagte man in der Vorstadt. Tatsache war, daß Rébufat, ein arbeitsamer und gewinnsüchtiger Geizhals, eine gewisse Hochachtung empfand vor diesem großen Teufelsweib mit seiner ungewöhnlichen Körperkraft und seiner außerordentlichen Anspruchslosigkeit und Sparsamkeit.
    Ihr war es zu verdanken, daß der Haushalt gedieh. Der Pächter murrte, als er eines Abends bei der Heimkehr von der Arbeit Miette in seinem Hause vorfand. Doch seine Frau schloß ihm den Mund, indem sie mit ihrer rauhen Stimme

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