Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
Vom Netzwerk:
Zugtoilette.
    Sie kehrte ins Abteil zurück, die Kinder waren noch nicht da.
    »Marie Antoinette soll das auch passiert sein«, sagte Anton leise, und während er es sagte, wußte er, daß es besser gewesen wäre, zu schweigen. Er versuchte ein Lächeln. Seit sie zurückgekehrt war, fühlte er sich erleichtert, sein Optimismus war ein unerschütterlicher und treuer Weggefährte, selbst im Zug nicht abzuhängen.
    Nadja setzte sich auf ihren Platz, wieder aufrecht, faltete die Hände im Schoß, stellte beide Füße nebeneinander, die Knie im klassischen Winkel. Nach einer Weile sagte sie: »Verschon mich mit deinem Halbwissen. Ich bin erst neunundzwanzig.«
    Er beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel. Sie schien sich in den Sitz zu drücken. »In meinen Augen«, begann er.
    »Soll ich davon leben, was ich in deinen Augen bin?«
    »Ich werde eine Arbeit finden, in irgendeiner Redaktion, zur Not als Korrektor, als der Mann für die Überschriften, als Laufbursche. Ich spreche zwei Sprachen, ich bin rumgekommen in der Welt. Zumindest zwischen Berlin und Moskau. Deutschland und die Sowjetunion sind freundschaftlich miteinander verbunden. Es gibt sogar eine russische Schule in Berlin, vielleicht kann ich als Lehrer – man sucht Arbeitskräfte, ich bin mir sicher, wir finden eine Wohnung am Volkspark, vielleicht auch in Schmargendorf, in Friedenau, in Steglitz.« Er bemerkte das Wohlklingende der Namen.
    »Es wird Krieg geben.« Ein Tonfall wie eine doppelte Linie, an das Ende einer Aufrechnung gesetzt.
    »Es steht alles auf Wachstum. Prosperität. Freundschaftsverträge. Kein Krieg.«
    »Du bist wirklich der letzte Mensch.«
    »Ja«, sagte er mit fester Stimme, »wenn du meinst.«
    Er schloß die Augen, die Sehnsucht nach Harmonie durchzog ihn, wie ein Sommerwind ein schattiges Zimmer durchzieht. Er wußte längst, wie dieses Bedürfnis ihn steuerte, wie er bereit war, sehr vieles dafür zu tun –, vor allem, zu lassen. Aber was sie hier begannen, war, ihre Feindschaft zu konservieren, an der Grenze zur Kriegserklärung. In rasender Fahrt standen sie still, richteten ihre Waffen aufeinander, blieben sitzen und täuschten sich in der Geschwindigkeit des Zuges über ihren Instinkt zur Flucht hinweg.
    »Diese Gerüchte«, murmelte Anton, »hier eins, dort eins. Uns interessieren nur Gerüchte, die wollen wir hören, wen kümmert schon die Wahrheit. In Wahrheit wird es keinen Krieg geben.«
    In einer einzigen rasanten Bewegung griff Nadja nach dem Froschglas, riß das Fenster herunter und schleuderte es hinaus. In einem weiten Bogen jagte es den Weg zurück und zerschellte irgendwo abseits auf den Steinen der Trasse. Mit einem heftigen Schub knallte sie das Fenster wieder zu.
    Die Kinder standen hinter der Scheibe der Tür, Senta legte eine Hand an den Griff. Anton schob die Tür von innen auf, Peter kletterte auf den Sitz neben Nadja, Senta rückte nah zu ihrem Vater.
    »Also, wir haben einige Beschlüsse gefaßt«, referierte Anton. »Über meine neue Arbeit und wohin wir zuerst gehen, wenn wir in Berlin aus dem Zug steigen.«
    Er schien die aufmerksamen Blicke der Kinder zu genießen.
    »Wir gehen zu meiner alten Tante Ingje, sie hatte mir ja geschrieben, daß wir bei ihr wohnen können, solange wir wollen.«
    »Wo ist er?«, fragte Senta.
    »Tante Ingje«, sagte Anton, »hat einen großen, dunklen Laden, und in diesem Laden kannst du ganz was Besonderes kaufen. Musik. Du kannst alle Noten der Welt kaufen, alle Musik, die je geschrieben worden ist. Sie hatte einen Mann, Rudolf, als der starb, hat sie den Laden geerbt. Rudolf wußte genau, wo jede Note von jedem Komponisten zu finden ist. Er ging ans Regal, zippzapp, hatte er die gewünschte Note parat. Aber Tante Ingje weiß bis heute nicht, wo was liegt. Nur hat sie einen Trick, wie sie das findet, was der Kunde wünscht. Und wißt ihr, was ihr Trick ist?« Er griff hinter sein Ohr, rollte seine Hand ein, schloß sie zur Faust, schüttelte die andere Hand im Ärmel, verdrehte die Augen, gab fremde Laute von sich und zeigte den Kindern, was er unter Einsatz seiner Kräfte hervorgezaubert hatte. Nadjas ChinaseidenBuch.
    »Wo kommt das her?«, fragte Senta.
    »Fragt Tante Ingje.« Anton lächelte mit leicht nach vorn fallenden Schultern.
    »Wo ist mein Frosch?«
    »Ich zeig euch noch einen.«
    »Wo, Papulja.«
    Nadja spürte, wie ihre Tochter sich ihr zuwandte, von ihr eine Erklärung forderte, wie nur ein Kind sie fordern kann, durch beharrliches

Weitere Kostenlose Bücher