Das Glück der Zikaden
Inbesitznehmen. Dann blieb er einen Moment vor Nadja und der Ausklappcouch stehen, hob ein Blatt hoch, noch ein weiteres, legte beide zurück. Nadja hörte, wie Senta mit der Tante sprach, ob sie nicht in der Kleiderkammer schlafen dürften? Dort fanden sie es gemütlich. Aber die Tante wollte das nicht, sie sah ihren Satin, den Chiffon unddie Wolle Schaden nehmen. Ingje residierte selbstverständlich in ihrem Schlafzimmer. Selbstverständlich. Sagte auch Anton, bevor er aus dem Laden ging.
Nadja umschritt mit wanderndem Blick den Ort, an dem sie saß, das Karree des Neuanfangs. Noten, kein Gesang. Papiermusik, nur dazu da, die Erinnerung zu erhalten.
Sie griff nach ihrer Handtasche, schrieb in ihr Chinaseiden-Buch: In Rußland überläßt man den Gästen das größte Bett. Man gibt ihnen die letzte Roulade, das letzte Piroschki, den letzten Schlag Sahne. Man zieht sich in die hinterste Ecke seiner eigenen Wohnung zurück, die Gäste sollen es schön haben. Notfalls liegt man nur unter einem Laken, Hauptsache alle anderen haben es warm. Tante Ingje zeigt ihre Sammeltassen vor, wobei sie einen Klaps auf die Hände der Kinder andeutet, falls die ihr Hutschenreuther berühren sollten. Ich nehme mir eins vor, jetzt und hier, und ich schreibe es auf, um mich immer wieder daran zu erinnern. Ich rede mit Tante Ingje kein Wort. Soll sie glauben, ich sei stumm. Und taub. Oder beides zusammen. Schweigen ist die vollkommenste aller Lügen. Die schärfste Waffe. Hat Otto immer gesagt.
Sie schrieb das Russische in ihrer geschwungenen, mädchenhaft verzierten Schrift, sie genoß jeden Buchstaben. Sie schrieb weiter, die Buchstaben waren eine Wohltat, die Bögen, die Schwünge, sie zwiebelte sich ein in ihre Ornamente, sie rüschte, verschmückte, sie vergaß den Rest.
Sie fand eine Reißzwecke, riß die Seite aus dem Buch und befestigte sie an der Kopfseite des Bettes, wie ein hübscher, für Ingje unentzifferbarer Morgenappell.
Die Tante ließ am nächsten Tag mit geschäftigem Rattern das Gitter vor ihrer Ladentür hochfahren und fegte in kantigen, kurzen Strichen den Weg davor. Sie hielt mit der Nachbarin einen Snack, wie sie betonte, um ihre Hamburger Herkunft herauszustellen. Anton ging auf die Pirsch. Nadja zog die Kinder an und wanderte mit ihnen hinüber zum Platz. Dort saß sie den Vormittag über und beobachtete beide bei ihren Spielen.
Ein paar bürgerliche Frauen mit ihrer Entourage aus Kindern und Kindermädchen. Ein paar eilig den Platz querende Männer in Hut und Mantel. Spatzen, die aus den Buchenhecken hüpften und sich im Sand der Beete wuschen. Die Stimmen der Kinder, das Rattern der Straßenbahn vom Korso, das Quietschen der Züge von der Ringbahn, es war noch hier zu hören. Sie igelte sich ein in das Gefühl emanzipatorischer Überlegenheit. Sie hatte immer gearbeitet, ihr Geld verdient, sogar ihre Talente dafür einsetzen können, weil sie in einem Staat lebte, der Frauen als wahrhaft gleichberechtigt betrachtete. Sie war eine Künstlerin. Hier, auf diesem Platz, im großen Berlin, nicht weit entfernt vom Kurfürstendamm, wo es mal die Wilde Bühne, das Schall und Rauch gegeben hatte, lange her, nichts mehr von übrig, hier schien es jetzt nur noch Frauen zu geben, die ihre Mutterschaft zelebrierten, Kinderwagen mit Andacht und Stolz schoben, als sei das die alleinige Bestimmung der weiblichen Seite der Menschheit. Hier gab es Bänke, auf denen nur Frauen saßen, im Schatten des vaterländischen Nibelungen-Brunnens, kleine Inseln, auf denen sie ihr Dasein fristeten, weit davon entfernt, eine Stimme zu haben.
Sie hatte gehört, wie Anton sich Tante Ingje gegenüber entschuldigend geäußert hatte: Nadjas Deutsch sei noch arg schlecht. Sie solle Geduld mit ihr haben. Die Tante hatte ein gleichgültiges Schnalzen von sich gegeben, das den Vorwurf nicht kaschierte. Nadja wollte keine Geduld und auch nicht Antons Entschuldigung, beides steigerte nur ihren Unmut.
Mehr und mehr erschien ihr in Träumen, im Dämmern am Morgen, der gutaussehende Mann mit den schwarzen Augen, dem friedfertigen Bart. Der ihr deutlich machte, daß er zu einer Entschuldigung bereit sei. Jawohl, er wollte sich entschuldigen. Ein Irrtum sei es gewesen, sie hatten das Theater nicht schließen, sie hatten die Compagnie nicht in Angst und Schrecken versetzen, zur Demütigkeit zwingen wollen. Sie war eine gut gelittene Künstlerin der Sowjetunion, eine tragende Säule einer wahrhaft gerechten Gesellschaft, des Aufbruchs, ein Teil von
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