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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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dem er gut gerüstet war für jede Art von Stich.
    Er nahm den Fuß nicht vom Pedal, schob nur seine Halbbrille auf die Augenbrauen und schaute sie darunter an.
    »Meine Frau hat Sie erkannt.«
    »Wer ist Ihre Frau?«
    »Eine entfernte Cousine von Otto Grothen. Erinnern Sie noch?« Nadja war von der Nennung des Namens wie von Eis berührt, hatte dabei auf die Nadeln in seinem Mund gestarrt. Es waren Pfeile, er konnte sie abschließen oder sich selbst an ihnen verschlucken.
    »Kommt nie wieder vor«, sagte der Schneider.
    »Was?«
    »Daß ich Sie so aus der Fassung bringe.«
    »Ich«, begann Nadja, »wo lebt Otto?«
    »Auf dem Kunzewskoje, drei Reihen hinterm Grab des Clowns.«
    Nadja spürte das Geräusch des blanken Stahls zwischen dem weichen Schmelz der Zähne.
    »Vor dem Anfang vom Ende. Freiwillig ausgeschieden, wie man so sagt.«
    Sie wollte ihn auffordern, die Nadeln beim Sprechen aus dem Mund zu nehmen. Gern hätte sie ihm den Fingerpanzer abgerissen, sich über seinen Nähtisch gebeugt und ihm seine wachsame Selbstsicherheit genommen.
    »Es wäre wieder Zeit für so etwas wie die Blauen Blusen ,finden Sie nicht? Über das lachen, was zum Weinen ist. Etwas, das unsere Herzen öffnet. Das gefiele mir sehr.«
    Ein Griff der Finger an die Nadeln, die Pfeile etwas seitlich an den Zähnen entlanggeschoben.
    »Wenn ich Schneider wäre, mein Gott, wie einfach. Immer ein bißchen weiter herumflicken am Leben.« Sie riß am Griff der Tür. »Oder meinen Sie, Sie könnten noch singen?«
    »Können? Müssen!«, sagte er, als sie die Türglocke schon zum Schellen gebracht hatte. »Wann wollen Sie den Mantel abholen?«
    »Nie mehr«, rief sie zurück, als sie draußen auf der Straße war.
    Die Blätter fielen leuchtend und ockergelb und täuschten in der Schönheit ihrer Farben über ihr Sterben hinweg. Sie setzte sich ans Klavier. Sie spielte jedes Lied, das sie je gespielt hatte, sie spielte ihr gesamtes Repertoire, als spiele sie es auf Abruf für den einen Menschen, durch den sie es gelernt hatte. Sie bemerkte bis in ihre Hände hinein den bitteren Groll, der sich auswuchs zur Wut gegen das Klavier, gegen seinen unveränderlichen Klang, sie schlug ihre Finger auf die Tasten, im Zorn über Otto, über sich, über Herrn Weniger, über den Mann mit dem Walroßbart im Klavier, auch über ihn, alle Väter, alle Männer, sie wünschte, der Deckel schlüge zu und ihr die Hände ab, der Biß eines Tieres, der Wunsch mischte sich mit etwas Zarterem, Bitterem, das sie vom Rücken her anfiel, der Gedanke an ihren Mann, seine anpassungsfähige Liebenswürdigkeit, seine Hilflosigkeit, die sie immer wieder weich werden ließ, sie versuchte, während sie spielte und auf das Zuschnappen des Mauls wartete, an ihre Kinder zu denken, aber es gelang ihr nicht, ein Glück zu fassen, was sie mit ihnen in Verbindung bringen konnte, außer damals das Glück, überlebt zu haben. Sie spielte, als ginge es um etwas anderes. Oben zu bleiben, über dem Eiszu bleiben, ihr Spiel, die Töne, die Musik, alles hielt sie oben, auf dem See, im Wald, in dem Land, wo ihr Herz schlagen konnte.
    Sie nahm nicht wahr, wie Anton am Abend die Wohnung betrat, seinen Mantel nicht auszog, den Hut nicht abnahm, sich nur auf den Hocker bei der Garderobe setzte und bis tief in die Nacht ihrem Spiel zuhörte.
    Irgendwann war es still. In der Sekunde stand Anton auf, öffnete die Wohnungstür, ging nach draußen, zog sie leise hinter sich zu, zückte seinen Haustürschlüssel, schloß wieder auf, kam in den Flur, als hätte er ihn heute noch nicht betreten, hängte seinen Mantel auf, legte seinen Hut auf die Ablage und sagte: »Guten Abend«, als er Nadja in der Tür zum Wohnzimmer sah, und: »Entschuldige meine Verspätung, die Redaktionssitzung.« »Ich weiß«, sagte Nadja mit kalter Milde, und: »Gute Nacht.«
    Seit dieser Nacht kam es immer öfter vor, daß Nadja Klavier spielte, wenn Anton nach Hause kam. Er konnte nicht sagen warum, aber er schlich sich immer in die Wohnung, blieb als heimlicher Gast auf dem Hocker sitzen, schlich sich heraus, wenn sie aufhörte, und kehrte eine Minute später unter dem üblichen Schlüsselgeklapper und Mantelgeraschel zurück. Er wußte, daß sie es wußte. Aber er spielte das Spiel. Sie spielte das Klavier. Er ahnte, daß es eine fragile Balance war, so austariert, weil sich zwei Menschen nicht die Wahrheit sagen konnten. Eine Geste, ein Wort hätte ausgereicht, und es wäre vorbei gewesen. Aber keiner von beiden wollte, daß

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