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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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oder Steinbock sind.‹
    Es dämmerte zu Abend. Eine warme, nicht ungemütliche Spätsommernacht. Er wich in den Gedanken aus, daß es gut möglich war, daß Nadja genau das machte, was Peter so lapidar bemerkt hatte. Ein Gedanke, den er selbst nie gehabt hatte. Er war nicht auf die Idee gekommen. Er wäre weiterhin nie auf die Idee gekommen. Sein Sohn hatte es erkannt. Sein Sohn, der einfühlsame Fisch, hatte es längst erkannt. Ohne es zu bemerken, bewegte er sich gen Mitte der Stadt, in die Nähe des Ortes, an dem sie vor vielen, unbegreiflich vielen, plötzlich wie ausradiert wirkenden Jahren im frühen Morgengrauen in Berlin angekommen waren.
    Anton stieg aus der S-Bahn, nahm die Unterführung. Am Ende des Ganges stand ein halbes Dutzend junger Polizisten, ihre Maschinengewehre geschultert.
    »Gibt nichts mehr zu gucken«, rief einer.
    »Ich will nicht gucken, ich suche eine Frau.«
    »Das tun viele.«
    Anton griff instinktiv nach seinem Ausweis in der Jackentasche. Die anderen, die geraucht hatten, kamen näher. Erstand der Gruppe gegenüber. Junge Gesichter. Ihre Uniformmützen wirkten zu groß für ihre Köpfe.
    »Riegelt eure Hölle einfach ab. Weiß ich wenigstens, wo ich nicht suchen muß.« Er hatte den Satz auf Russisch gesagt, den Tonfall genossen. »Eure russische Hölle«, sagte er noch einmal, während er ihre Blicke in seinem Rücken zu spüren meinte, die Finger um die Zigaretten, die Glut in die Hand hineingehalten, als gelte es, ihr vorschnelles Verglühen zu verhindern.
    Er ging Schritt für Schritt zurück durch die menschenleere Unterführung. Das Knirschen seiner Sohlen im gekachelten Schlauch.
    Er stieß mit der Schulter eine Schwingtür auf, er spürte die sommerlich-kühle Nachtluft im Gesicht, er hörte von weitem das Geräusch einer schweren Maschine, eines Lasters, eines Generators vielleicht, er ging weg vom Bahnhof, gen Westen die Straße hinunter, im orangegelben Licht der Straßenlaternen.
    Er sah sie erst nicht. Er sah nur eine schmale, hochgewachsene Frau in einem Mantel und von hinten. Wie sie in der Nähe eines Hauseinganges stand. Und die Anfahrt des Lasters beobachtete. Hinter dem Stacheldraht, der engreihig bis weit über Kopfhöhe die Horizontlinie dieser Stadt war. Die Ladefläche des Lasters richtete sich auf, Betonsteine rutschten auf die Straße. Ein Generator trieb eine Trommel an, der Zement wurde eilig aufgeklatscht, die Steine zusammengesetzt. Hinter den Bauarbeitern standen im Abstand von einigen Metern Volkspolizisten.
    Anton überquerte die Straße, zwang sich, nicht auf Nadja zuzulaufen. Als sie ihn bemerkte, wich sie zurück in den Hauseingang. Er blieb stehen. Der Laster fuhr ab, der Generator rasselte, die Männer arbeiteten angetrieben.
    »Ich weiß«, sagte sie nur und steckte die Hände, wie vorsorglich, in die Manteltaschen. Er griff nach ihrem Arm. Erspürte ihren Ellenbogen, die kräftigen Muskeln am Unterarm.
    »Ich werde hier nicht mehr rauskommen.« Sie wand sich aus seinem Griff, klemmte den Ellenbogen an ihren Körper.
    »Sieh dich um, keiner hält uns auf.« Er hörte seine eigene Hilflosigkeit und wünschte, er könnte den Satz noch einmal sagen, in einem optimistischen Tonfall. »Bitte.«
    »Ach, Anton«, sagte sie in ungeahnter Warmherzigkeit und starrte geradeaus. Sie standen im Lärm des Mauerbaus und schwiegen.
    Er saß an seinem Schreibtisch in der Redaktion und floh, weil es das einzige war, wohin er gehen konnte, in seine Horoskope. Er schrieb: ›Wir sind im Tierkreiszeichen der Jungfrau angekommen, die Jungfrauen sind zuverlässige, manchmal dickköpfige, meist beharrliche Zeitgenossen. Sie sind perfektionistisch veranlagt. Oft sind sie einsam. Sie suchen lieber sich als die Zerstreuung. Sie brauchen Ruhe, die Abwesenheit von Lärm. Sie brauchen ihre Gedanken und ihre Konzentration. Sie sind keine Menschenfeinde, das nicht! Aber ihre Empfindsamkeit macht es ihnen nicht möglich, mit zu vielen Menschen gleichzeitig in einem Raum zu sein. Einsamkeit ist nichts Verwerfliches. Sie ist eine Erscheinung unserer Zeit. Wir haben gelernt, mal vor Urzeiten, als wir noch mit Keulen in der Höhle hausten, draußen das Mammut –, daß es dreißig von uns sind, die gut miteinander auskommen. Da kannten wir jeden, waren gerade so viele Männer, daß es nicht knallt, und so viele Frauen, daß es nicht zickt, dann kümmerten wir uns um die Kinder und hatten unsern gemeinsamen Feind. Wie weit entfernt davon leben wir! Zu Hunderttausenden, die wir nicht

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