Das Glück der Zikaden
sein konnten. In seiner Brieftasche steckte seit Jahren ein Zettel, auf dem stand, daß Cervantes, als er in die Neue Welt wollte, nach Neuspanien, vom König auf seinen Antrag geschrieben bekam: Sagt ihm, er soll sich hier einen Job suchen.
Er übersah Sentas Tränen nicht, er hielt sie fest, wußte um ihr Anlehnungsbedürfnis, das in den letzten Tagen ihres Zusammenseins zu einer einzigen, eher symbiotischen Umarmung geworden war. Er tröstete sie, neckte und küßte sie, er versuchte immer wieder, sie zu überreden. Ihr Blick ging bis zur Mauer, zur unverputzten, grauen Kuppe, überhaupt ein Grau in Grau. Sie verfolgte die Spiralen des Stacheldrahtes darüber. Am Übergang standen Grenzer, Polizisten, eher kleine Männer, die zu kindlich für ihre Aufgabe wirkten, einen Staat zu sichern, dafür umso eifriger damit beschäftigt, mit ihren Maschinenpistolen und Uniformen kampfbereite Autorität auszustrahlen. Zwischen ihnen die Schlagbäume wie verlängerte Arme.
Sie sah die rußgrauen Häuserwände auf der anderen Seite der Stadt. Sie ahnte hinter der Wand den Todesstreifen, der sich ihrer Auffassung nach eindeutig gegen das Volk richtete,das mit ihm leben mußte. Das sagte sie immer wieder zu Gregor. Und Gregor verstand es, diese Sichtweise umzukehren. Er empfand den Westen als Bedrohung, die glatte, unscheinbare, später sogar verzierte Mauer als den größeren, weil verharmlosten Makel, das Verdrängen und die daraus resultierende Oberflächlichkeit als den härteren Gegner. Das scheinheilige Pflaster des Konsums. Der Glaube an die heilige Arbeit. Ans märchenhafte Wachstum, alle würden doch nur ignorieren, wo es schmerzte. Nichts verabscheue er mehr, sagte er, und: »Glaube ist heilbar.« Sie entgegnete: »Das interessiert mich nen feuchten Kehricht.« Er sagte: »Es gibt größere Aufgaben im Leben als unsere.« Sie erwiderte: »Aber warum mußt gerade du dich ihrer annehmen?« Es ging hin und her zwischen beiden, ohne daß Senta ihren Kopf von Gregors Schulter löste, und ohne daß sie ihm die Wahrheit sagte. Sehr einfach hätte sie ihren Trumpf ausspielen können, um ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen, um ihm sein Weggehen schwierig zu gestalten. Aber ein kleiner Zweifel, eine Sorge um das Geheimnis, das auch für sie noch ein junges Geheimnis war, hielt sie davon ab. Eine kleine Bohne noch, mehr nicht, aber trotzdem schon ein Lebewesen. Sie konnte das nicht aussprechen, sie wußte auch nicht warum, sie suchte immer wieder nach Formulierungen, aber keine erschien ihr passend. Ich trage dein Kind unter meinem Herzen. Schrecklich, so hätte es ihre zur Theatralik neigende Mutter wohl ausgedrückt. Sollte sie sagen: Meine Blutungen sind seit drei Wochen überfällig. Mit solchen Belanglosigkeiten wollte sie Gregor nicht belasten. Das ging ihn nichts an, das war ihre Sache. Es könnte sein, daß ich schwanger bin. Noch am ehesten. Aber was ihren Widerspruch wachrief, war die Instrumentalisierung dieser Bohne. Des Lebewesens, das irgendwie noch kein Mensch war, aber dessen Leben schon dafür verwendet werden sollte, eine Entscheidungssituation zu beeinflussen.
Sie sagte nichts. Sie ließ ihn los und gehen, winkte ihm nicht mehr nach, stand nur da und sah ihn verschwinden, sah das alles verschwommen und zugleich voller Selbstekel, denn auf der Straße zu stehen und zu weinen war etwas, was sie schwächlich und melodramatisch fand. Mit entschlossener Ruppigkeit wischte sie sich das Nasse aus den Augen, sah, wie Gregor an das Kontrollhäuschen trat, seinen Personalausweis vorzeigte, wie er wartete, sehr lang wartete. Sie sah, wie er das Papier wieder entgegennahm und Schritt für Schritt, auch ohne sich noch einmal umzudrehen, im anderen Teil der Stadt verschwand. Für ein Auto öffnete und schloß sich der Schlagbaum. Als er in seine Auffangkuppe schlug, war es Senta, als hätte es einen Schnitt durch die Luft gegeben. Von diesem Tag an, im Frühsommer 1967, hörte sie bis zum Winter 1989 nichts mehr von ihm, dem leiblichen Vater ihrer ersten Tochter. Sie schloß dieses Bild in sich ein und ging vom Grenzübergang fort. Sie begann auf dem Rückweg ein stilles Gespräch mit ihrem Vater, der ihr und ihrem Bruder Peter gegenüber immer wieder betont hatte, was für ein Glück sie gehabt hatten, damals Moskau den Rücken gekehrt zu haben, gerade noch im rechten Moment, denn so hätten sie nie unter Willkür und Verfolgung gelitten, den Krieg hier überlebt, was er als Beweis genug betrachtete, die richtige
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