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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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kennen, nicht kennen wollen, zusammen. Und müssen Mitleid empfinden mit fremden Menschen, aus Meldungen weht ihr Leben zu uns herüber: Tod! Teufel! Krankheit! Schiffsuntergang! Wir brauchen die Einsamkeit, weil die Gemeinschaft zu groß geworden ist. Sie erstreckt sich über den Globus. Wer also den einen stillen Pol unserer Existenz sucht, wer in ihm leben kann, der besitzt eine große Kraft. Natürlich kann dieser Pol jederzeit, fast auch unbemerkt, zu einem Nordpol werden. Wo kein Mensch mehr hinkommt. Dann lebt man in der Kälte, dem weißen Weiß, kein Vogel piept, kein Hundegebell, kein freundliches Wort eines Nachbarn. Dort hat die Einsamkeit nichts mehr von ihrer sinnstiftenden, erholsamen Größe, sondern –, gut, wir ahnen, wie es am Nordpol ist. Eine Schnecke ohne Haus ist der Mensch, der im Tierkreiszeichen Jungfrau geboren ist, dünnhäutig verletzlich, ein Tritt reicht aus, und er ist erledigt. So durabel wie fragil, man muß wissen, wann man ihn zu belasten und wann zu schonen hat. Der Mensch selbst, der unter diesen Sternen steht, weiß das von sich. Er sucht den Fehler nicht bei anderen, das macht ihn stark. Leider nicht erreichbarer, zumeist. Ich gebe unumwunden zu, daß es mich von allen Tierkreiszeichen immer am stärksten zur Jungfrau hingezogen hat.
    Er las den Text noch einmal durch, strich den letzten Satz und legte das Papier Marusch, seinem Chef vom Dienst, ins Fach.
    Nadja liebte und verabscheute zugleich diesen Schmerz, wendete sich in ihn hinein und lebte darin auf, als könnte sie sich nur noch darin so lebendig wie auf einer Bühne fühlen. Die Mauer wurde gebaut, verbreitert, weiträumig abgesperrt, als Hinterlandsicherung, antifaschistischer Schutzwall oder, schlichter, als Grenze bezeichnet. Anton ging in die Redaktion, schrieb die Waage, den Skorpion, den Schützen und den Steinbock. Knigge für den Alltag, und über Filmstars, die Spione spielten, über Spione, die doppelt spielten, manche von ihnen hatten mehrfach die Seiten gewechselt, jeden an jeden verraten, die meisten von ihnen wurden hingerichtet,was die Schauspieler, die sie verkörperten, zu überlebensgroßen Stars machte. Es gab einige Verräter, die kamen ihren Rächern mit einer Giftkapsel zuvor. Anton suchte nicht mehr nach seinem Code, er horchte manchmal auf den Frequenzen, erleichtert, nur andere Kombinationen zu hören. Er stellte sich tot, das war seine Strategie, und wirklich, er wurde eine Karteileiche in der riesigen Umwälzungsmaschine, die lange Zeit Namen, Chiffren, Zeichen und Abermilliarden an Schreibmaschinenbuchstaben in sich verbarg. Wie um sich der Schuld zu entledigen, schrieb er immer öfter über Spione, solche, die aus Überzeugung handelten, solche, die es für das Geld taten, für ein aufregendes, über ihre kleine Existenz hinausweisendes Leben. Mit jeder Geschichte mehr schien er seine Ängstlichkeit beruhigen zu können. Er arbeitete beharrlich, er war in Augenblicken immer wieder davon überzeugt, auf diese Weise seine Schuld aufs Gelände der Fiktion verschieben zu können. Senta und Peter gingen ihrer Wege. Berlin war grau und matt, wurde grün und sonnig, roch nach Linden und Dieselbenzin, färbte sich gelb und versank in seiner kaltschnäuzigen Melancholie für die Dauer eines Winters.
    Je laxer die Mode wurde, je kürzer die Röcke, je knapper die Blusen, desto mehr bekannte Nadja sich zum Stil der 30er Jahre in Moskau, sie ließ ihre Wollröcke aufbügeln, die mürben Schuhe besohlen, sie ließ den aufgescheuerten Mantel wenden – was schwierig war, denn lange Zeit fand sich kein Schneider, der das machen wollte. Jeder sagte ihr: »Kaufen Sie sich doch einen neuen, meine Dame, der Schnitt dieses Stücks entspricht auch nicht mehr ganz der gängigen Mode.« Sie fand einen russischen Juden, der den Krieg in einem Zwischenkeller in Frankreich überlebt und unter der Obhut eines Amerikaners sein Schneidergeschäft an der Clayallee wiedereröffnet hatte. Er wendete ihr den Mantel, er nähte ihre Moskauer Modelle nach, er fragte sie einesTages, als sie mal wieder bei ihm etwas zur Änderung bestellte, ob er sie etwas fragen dürfte.
    Sie sprachen Deutsch miteinander, als wollten sie sich gegenseitig nicht an ihre Herkunft erinnern. Je nachlässiger der eine formulierte, desto präziser mühte sich die andere.
    »Sie waren eine der Blauen Blusen , nicht?«, fragte er, die Stecknadeln mit dem Kopfende zwischen den Zähnen. Nadja bemerkte den Fingerhut am linken Zeigefinger, ein Schild, mit

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